Im Interesse der Nation
Schreibtisch.
Erst trinken sie Wein. Dann kommt es unter vermutlich höchst ungleichen Bedingungen zu einem Kampf. Der Täter fügt der Frau im Verlauf des Kampfs eine Verletzung zu, von der er weiß, daß sie zum Tode führt. Und deshalb schneidet er ihr den Hals durch, um den Vorgang zu beenden, etwa als eine Art Gnadenstoß? Dann stiehlt er ein paar Fotos und räumt den Tatort mit einer Präzision auf, als wäre er Polizeibeamter?
Nein, die Gleichung enthielt zu viele unbekannte Faktoren. Ein unangenehmer Entschluß war jetzt jedoch unvermeidlich.
Rune Jansson warf den Kugelschreiber auf den Notizblock, erhob sich schwer, murrte über seinen Silvester-Vorsatz, mindestens fünf Kilo Übergewicht durch Joggen abzuspecken, und begab sich zum Zimmer des Polizeidirektors.
Es konnte keinen Zweifel geben: Dies war ein Mord, der umfangreiche Nachforschungen erforderte. Der Polizeidirektor kam zu dem gleichen Urteil.
Aus diesem Grund forderte die Polizei von Norrköping bei der Reichspolizeiführung in Stockholm Hilfe an, genauer von der Einheit, die bei Polizisten immer noch hartnäckig Reichsmordkommission genannt wird. Dort wollte man schon am selben Abend vier Mann nach Norrköping schicken.
Die Beamten aus Stockholm würden sich wohl wie üblich im Hotel Standard einquartieren, in dem es an drei Abenden der Woche Tanz gab.
2
Es war 12 Uhr mittags Ortszeit, als Carls Maschine auf dem San Francisco International Airport landete. Der Zeitunterschied zwischen Schweden und Kalifornien beträgt neun Stunden; in Carls Körper war es also 9 Uhr abends. Es war ihm aber gelungen, während des Fluges relativ lange zu schlafen. Es fiel ihm leicht, bei Flügen zu schlafen, vielleicht deshalb, weil er sich Flugreisen unbewußt als sowohl ereigniswie risikolos vorstellte, als kurze Momentaufnahmen, oder weil ihm Flugzeuge als geschützte Räume erschienen.
Die Paß und Zollformalitäten hatte er schon in New York hinter sich gebracht. Es war erstaunlich schnell und reibungslos gegangen, was höchstwahrscheinlich daran lag, daß sein Dauervisum für die USA eine Codebezeichnung enthielt, die ihn als qualifizierten Militärexperten eines verbündeten Landes auswies. Rein formal war das kaum eine korrekte Beschreibung des neutralen Schweden, doch in rein praktischer Hinsicht war es eine durchaus zutreffende Beschreibung des Verhältnisses zwischen schwedischem und amerikanischem Nachrichtendienst.
Kaum hatte er seine Reisetasche bei der Gepäckausgabe vom Rollband genommen, ging er zur Hertz-Autovermietung und quittierte den Schlüssel seines im voraus bestellten Wagens. Dann ging er zu einer Telefonkabine und rief San Diego an, eine Nummer, die er nie vergessen hatte.
Er hatte das Gespräch sorgfältig geplant und damit gerechnet, daß ihr Vater am Samstag um diese Zeit abnehmen und vermutlich betrunken sein würde. Insofern hatte er richtig geraten: Der Mann schien kein bißchen erstaunt zu sein, daß er anrief. Die nächste Vermutung galt ihrer neuen Adresse, nämlich daß sie wahrscheinlich in Santa Barbara wohnte. Folglich behauptete er, er habe ihre Adresse in Santa Barbara verloren.
Auch da hatte Carl ins Schwarze getroffen, obwohl seine Vermutung nur auf einen mehrere Jahre alten Poststempel auf einer Ansichtskarte zurückging. Er bekam ihre Adresse, bedankte sich, legte auf und wagte die Prophezeiung, daß ihr Vater vermutlich vergessen würde, daß das Telefonat überhaupt stattgefunden hatte, wenn er in den nächsten Stunden in seinen Wochenendrausch versank. Man konnte getrost davon ausgehen, daß sein Alkoholismus in den letzten fünf Jahren zugenommen hatte. Jetzt wußte Carl also, wo sie wohnte. Es waren höchstens sieben Stunden Fahrt in gemächlichem amerikanischem Highway-Tempo.
Der Wagen war ein dunkelblauer Ford Thunderbird, ein recht häßliches und klobiges Gefährt, schwankend, amerikanisch und mit einem zu schwachen Motor. Zumindest hatte er diesen Eindruck, als er auf den Freeway 101 einbog. Aber das spielte jetzt keine Rolle, denn jetzt war er zu Hause in den USA, und er paßte sich fast sofort dem amerikanischen Verkehrsrhythmus an, der manche deutsche Kollegen schon nach wenigen Minuten zum Wahnsinn treiben würde. Lausiges Tempo, kein Halten der Fahrspur, kein Überholen, hier ging es anders zu. Carl fuhr eine Weile mit Gedanken an Deutschland und eine bestimmte nächtliche Fahrt im Regen nach Hamburg, bei der der westdeutsche Kollege nur ein paarmal 200 Stundenkilometer unterschritten
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