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Im Interesse der Nation

Im Interesse der Nation

Titel: Im Interesse der Nation Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan Guillou
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wird zwischen »harten« und »weichen« Ländern unterschieden. Die USA, Frankreich, Großbritannien und die Bundesrepublik Deutschland gelten als ausgeprägt »harte« Länder. Finnland, Schweden und Österreich hingegen sind »weiche« Staaten, Staaten, in denen sich vor allem die taktisch-operative Tätigkeit auf einem wesentlich höheren Risikoniveau betreiben ließ als in einem »harten« Land. Tschiwartschews Vorgänger hatte betont, daß ein GRU-Offizier kaum Gefahr lief, irgendwann geschnappt zu werden, es sei denn wegen Trunkenheit am Steuer. Es hatte sich wie reiner Scherz angehört, aber in Wirklichkeit war es später einmal genauso passiert.
    Beim GRU gab es einen klassischen Scherz über einen jungen Kollegen vom Konkurrenten KGB, der schon kurz nach der Ankunft in Stockholm damit begonnen hatte, verblüffend detaillierte militärische Informationen an die Zentrale in Moskau zu liefern. Das war irgendwann in den fünfziger Jahren gewesen.
    Die Zentrale hatte einen Teil dieser Informationen an die Analyseabteilung des GRU in Stockholm zurückgeschickt, um sie prüfen zu lassen, mit dem Ergebnis, daß man immer wieder nur feststellen konnte, daß die Angaben vollkommen korrekt zu sein schienen. Und der junge Leutnant schaffte es, sich noch bis zum Major befördern zu lassen, bis man die Quelle seiner fabelhaften Berichte entdeckte.
    Er war ganz einfach in eine Bibliothek in der Stockholmer Innenstadt gegangen, hatte die Militärrolle verlangt, diese dann Stück für Stück abgeschrieben und die Angaben nach Hause geliefert. Damals hatte sich in Moskau noch niemand vorstellen können, daß ein Land der Gegenseite sämtliche Offiziere, ihre Funktionen, Auszeichnungen und früheren Verwendungen in öffentlich zugänglichen Akten aufführte. Doch Schweden war so ein Land und ist es noch heute.
    Oberst Tschiwartschew ging ungeduldig im Zimmer auf und ab. Er hatte einen neuen Chiffriertechniker bekommen, und der Bericht ließ auf sich warten; sein früherer Chiffreur wäre schon längst fertig gewesen. Der ständige Austausch von Chiffrierpersonal war ein Problem. Doch andererseits konnte man diese Leute verstehen. Ihr Leben war kein Honigschlecken. Sie hatten Auslandsposten, bekamen von dem jeweiligen Land aber nicht mehr zu sehen als die Straße zum Flughafen. Sie durften nie das Botschaftsgebäude verlassen, da sie zuviel wußten. Jeder höhere GRU-Offizier hatte seinen persönlichen Chiffriertechniker.
    Ein Geräusch in der Gegensprechanlage. Endlich kam der Bericht. Der Chiffriertechniker wirkte nervös, vielleicht weil es lange gedauert hatte, vielleicht lag es auch daran, daß er zum erstenmal ein Dokument dieser Art zu sehen bekommen hatte. Er meldete sich zur Stelle und übergab den Bericht mit übertriebener Zackigkeit.
    Jurij Tschiwartschew bat ihn zu gehen. Die mögliche Antwort werde vermutlich Zeit brauchen.
    Der GRU-Chef ließ sich schwer auf den Stuhl hinter seinem Schreibtisch fallen und wog den Aktendeckel in der Hand. Um der Wahrheit die Ehre zu geben, erhielt auch er selbst nicht oft eine Kopie dessen, was sich jetzt in dem Ordner verbarg. »Tägliche Nachrichteninformation« - das hört sich recht anspruchslos an, doch die tägliche Zusammenstellung, um die es ging und die um 6 Uhr jeden Morgen verteilt wurde, wurde normalerweise nur von den Mitgliedern des Politbüros und der höchsten militärischen Führung gelesen. Das Informationsdirektorat des GRU bearbeitet ständig, vierundzwanzig Stunden am Tag ohne jede Unterbrechung, den Strom von Hunderttausenden wichtiger und weniger wichtiger Angaben und siebt in mühseliger Kleinarbeit das Wesentliche heraus, bis die »tägliche Nachrichteninformation« vorliegt.
    Und jetzt ging es augenscheinlich um Schweden, und das war schon lange nicht mehr passiert. Oberst Tschiwartschew strich ein paar nicht vorhandene Eselsohren der ersten Seite glatt, holte tief Luft und begann zu lesen.
    In dem Bericht ging es ausschließlich um einen Vizeadmiral namens Gennadij Alexandrowitsch Koskow, den Oberst Tschiwartschew flüchtig kannte und noch vor einem Jahr bei einer Konferenz in Kaliningrad getroffen hatte, bei der es um die künftigen Übungen der Divisionsverbände im Ostseeraum gegangen war.
    Mit einem einstimmigen Beschluß des Politbüros war Vizeadmiral Gennadij Alexandrowitsch wegen Landesverrats zum Tode verurteilt worden. Er und seine Familie seien in den Westen desertiert. Die Familie habe sich über die Türkei in die USA abgesetzt und befinde

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