Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Im Jahre Ragnarök

Titel: Im Jahre Ragnarök Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Henkel
Vom Netzwerk:
fanden.«
»Verstehe«, sagte Tubber. Doch in Wahrheit war er vom Verstehen weit entfernt.
Der Gipfel des Bergs Hohlestein hatte sich als steil aufragender Basaltklotz von den Ausmaßen eines vierstöckigen Hauses entpuppt, umgeben von Wald, eine gute Meile abseits der nächsten Straße gelegen und nur über einen Trampelpfad zu erreichen. Was einen Menschen an einem eisigen Spätwintertag zum Sterben ausgerechnet hierher treiben sollte, war Tubber ein Rätsel.
»Ja, dort in der Höhe lag er auf finst'rem Fels, einsam und von der mitleidlosen Kälte entseelt«, deklamierte Hollingsworth in düsterer Getragenheit.
»Er war also erfroren«, fasste Tubber die barock gewundenen Formulierungen des Captains knapp zusammen. »Ließ sich das denn auf den ersten Blick feststellen?«
»Nun, das hat Major Parkland sogleich geschlussfolgert. Bedenkt man, mit welcher Gewalt sich der dahinsterbende Winter in der Nacht zuvor ein letztes Mal verzweifelt und zornig aufgebäumt hatte, so ist diese Annahme auch durchaus naheliegend.
Ich habe vernommen, dass Doktor Boyce durch die Autopsie zum selben Ergebnis kam«, antwortete der Captain, um dann erneut zum Rezitieren spontan erdachter schwermütiger Prosa anzusetzen.
Tubber ignorierte die weitschweifigen Satzgebilde, mit denen Captain Hollingsworth die Tragik menschlichen Schicksals im Allgemeinen beklagte, und ließ stattdessen die Umgebung auf sich wirken, in der vagen Hoffnung, etwas Aufschlussreiches zu entdecken.
Der erdige Geruch feuchten Waldbodens hing in der nasskalten Luft. Nur an einigen Stellen, zwischen bemoosten Felsbrocken und in Bodenwellen, hielten sich noch unansehnliche letzte Reste von altem Schnee. Im Frühjahr und Sommer, so vermutete Tubber, mochte diese dicht bewaldete Bergkuppe ihren Reiz haben. Doch gegenwärtig machte der Ort einen beunruhigenden und düsteren Eindruck auf ihn; und das, obwohl die Märzsonne von einem wolkenlosen Himmel durch die noch kahlen Baumwipfel schien.
»Nur aus reinem Interesse, Sir ... wieso sind Sie überhaupt am Morgen des 2.
März hierher gekommen?«, fragte Tubber, der sich dafür keinen sinnvollen Grund ausmalen konnte.
»Wir wollten an jenem Tag einige archäologische Untersuchungen vornehmen.
Major Parkland und ich sind sehr an den Zeugnissen der Vergangenheit interessiert, Lieutenant«, antwortete Hollingsworth und nahm die Frage zum Anlass, beide Arme zu einer weit ausgreifenden Geste auszubreiten, um dann, als hätte er nur auf diese Gelegenheit gewartet, darzulegen: »Sehen Sie, dieser Berg war einst eine Kultstätte. Oben auf diesem Felsen befindet sich ein Becken, das eindeutig von Menschenhand ins Gestein gestemmt wurde und das unzweifelhaft religiösen Handlungen diente. Nebenbei bemerkt ist es dieses Becken, dem der Berg Hohlestein seinen Namen verdankt. Nun vertritt Major Parkland die irrige Auffassung, dies sei ein germanischer Kultplatz. Ich hingegen neige der weitaus vernünftigeren Deutung zu, dass wir es hier mit einer erheblich älteren keltischen Stätte zu tun haben.«
»Das ist äußerst faszinierend, Sir«, log Tubber. »Wie gelangt man dort hinauf?«
Der Captain zeigte auf die linke Flanke des Felsens. »Die Vorsprünge dort bilden fast so etwas wie eine Treppe. Es ist ganz einfach, man braucht nur ein wenig Geschick und Vorsicht.«
Ein kurzer Blick auf die bedenklich schmalen Absätze im Fels, über die er die Steilwand hätte erklimmen müssen, reichte aus, um Tubber ein flaues Gefühl in der Körpermitte zu verursachen. Er bedankte sich bei Hollingsworth und wandte sich Dünnbrot zu, der an einem Baum lehnte und in offensichtlichem Desinteresse an seiner Umgebung in einem zerknickten Taschenbuch blätterte. Langsam begann der apathische Deutsche, der gelegentlich besserwisserische Literaturzitate von sich gab und sich ansonsten auf das unmissverständliche Zurschaustellen seiner Gleichgültigkeit beschränkte, Tubber zu nerven. Es wurde Zeit, dass dieser Mann etwas Nützliches tat.
»Würden Sie bitte dort hinaufklettern und sich ein wenig umsehen?«, fragte Tubber und deutete in Richtung des Gipfels.
Dünnbrot blickte von seiner Lektüre auf. »Nein, würde ich nicht«, antwortete er.
»Ich soll Sie unterstützen und, falls nötig, für Ihre Sicherheit sorgen. Von halsbrecherischen Klettertouren ist in meinen Befehlen aber nirgends die Rede.«
»Sie und mich unterstützen!«, entgegnete Tubber gereizt. »Das will ich sehen.
Sie reißen sich ja nicht gerade ein Bein aus, um mir zu helfen.«
»Ganz wie

Weitere Kostenlose Bücher