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Im Jahre Ragnarök

Titel: Im Jahre Ragnarök Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Henkel
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einem Herkules Svensson treffen, sondern mit jemandem namens Svensson beim Herkules!«
Dünnbrot spähte skeptisch hinauf zu dem seltsamen Bauwerk, das die Stadt überragte. »Es ist immerhin eine Möglichkeit, Herr Leutnant. Und was gedenken Sie nun zu tun?«
»Ganz einfach. Sie sind doch etwa so groß wie der Tote, und sein Mantel passt Ihnen auch ...«
»Ich soll mich als er ausgeben?« Dünnbrot schüttelte entschieden den Kopf.
»Oh nein, Herr Leutnant! Was, wenn dieser Svensson nun zum Beispiel ein schwer bewaffneter Choleriker ist und diese Täuschung gar nicht gut aufnimmt? Nennen Sie mir nur einen einzigen guten Grund, weshalb ich dieses Risiko eingehen sollte.«
»Ich bezahle Ihnen dafür eine Sonderprämie«, versprach Tubber und zog blitzartig das Bündel deutscher Geldscheine aus der Tasche, das man ihm mitgegeben hatte. »Sehen Sie, hier! Ist das Grund genug?«
Entgegen Tubbers Erwartungen zeigte sich Dünnbrot jedoch keineswegs beeindruckt.
»BDL-Währungseinheiten?«, sagte er beim Anblick des Geldes, als handele es sich um einen geschmacklosen Scherz. »Mit Verlaub, Herr Leutnant, die Lappen sind es nicht einmal wert, dass man sich den Hintern mit ihnen abwischt. Und auch mit britischen Pfundnoten brauchen Sie es gar nicht erst zu versuchen, denn die sind ja ebenfalls nicht das Papier wert, auf das sie gedruckt werden. Sparen Sie sich die Mühe. Es gibt nichts, womit Sie mich überreden könnten. Absolut nichts.«
     

9. März, Am Herkules oberhalb von Kassel
    John Tubber kauerte hinter einer niedrigen Mauer und behielt aus sicherer Entfernung Günter Dünnbrot im Auge. Der Deutsche stand in der Kleidung des unbekannten Toten an der Brüstung einer breiten Terrasse oberhalb des Fuldatals.
Den Mantelkragen hatte der Kommissar hochgeschlagen und den Schirm der alten Feldmütze tief in die Stirn gezogen, damit ihn sein Gesicht nicht vorzeitig verraten konnte. Dank des nasskalten Windes, der immer wieder Wolkenfetzen über den Bergrücken scheuchte, wirkte die Vermummung glücklicherweise nicht einmal verdächtig.
Wenn mein Vater erfährt, dass ich seine Chaucer-Ausgabe verschenkt habe, bringt er mich um , dachte Tubber zähneknirschend. Dass er den renitenten Polizisten, den man ihm unterstellt hatte, nur durch Bestechung zur Zusammenarbeit bewegen konnte, war bereits haarsträubend. Doch dass dafür nicht etwa Geld oder Zigaretten, sondern ein Buch mit spätmittelalterlicher Dichtung den Besitzer wechseln musste, erschien Tubber grotesk bis zur Unglaubwürdigkeit.
In der rechten Hand hielt der Engländer seine entsicherte Webley & Scott-Pistole.
Für den Fall, dass sich Dünnbrots grenzenloser Pessimismus bewahrheiten sollte, wollte er wenigstens nicht unvorbereitet ins Verhängnis stolpern. Doch er hoffte, dass es nicht so weit kommen würde.
Unwillkürlich wanderte sein Blick zu dem Bauwerk, das sich hinter Dünnbrot erhob. Genau auf dem Scheitel des Bergrückens ragte ein mächtiges, schlossartiges Oktogon empor, welches selbst aus geringer Entfernung schon den Anschein erweckte, es wäre in einem Stück dem gewachsenen Fels abgerungen worden. Verstärkt wurde dieser beabsichtigte Effekt dadurch, dass von den drei sich nach oben hin verjüngenden Stockwerken das unterste grob behauen und zyklopisch aussah, um dann in die verfeinerten Formen des zweiten Geschosses überzugehen, die ihrerseits zu der immer noch kolossalen, doch nunmehr vollendet durchgestalteten Fassade des obersten Teils führten. Gekrönt wurde der gewaltige Bau, der mit seinen leeren, übergroßen Fensterhöhlen wie der nie vollendete Palast eines Titanenfürsten wirkte, von einer schlank in den Himmel ragenden Pyramide. Und auf ihrer Spitze befand sich das Standbild, dem der gesamte Komplex seine Bezeichnung verdankte: der Halbgott Herkules, der nachdenklich ins Tal hinabsah.
Tubber wusste, dass ihn dieses überwältigende Bauwerk eigentlich zutiefst hätte beeindrucken müssen. Doch zu seiner eigenen Verwirrung empfand er nichts, weder Faszination noch Staunen. Nur einen flüchtigen Moment melancholischer Leere glaubte er beim Anblick des enormen Oktogons in sich zu bemerken. Und selbst das war vielleicht nur eine aus der Enttäuschung über das Ausbleiben jeder Gemütsbewegung geborene Illusion.
Sinnlos , war das einzige Wort, das Tubber angesichts der nutzlosen, düsteren Massen von Mauerwerk in den Sinn kam. Dann wandte er den Blick wieder vom Herkules ab, um den verkleideten Kommissar Dünnbrot zu beobachten und darauf zu

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