Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Im Jahre Ragnarök

Titel: Im Jahre Ragnarök Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Henkel
Vom Netzwerk:
hoffen, dass sich endlich etwas tat.

Nervös verlagerte Dünnbrot sein Gewicht abwechselnd von einem Fuß auf den anderen. Er hatte nicht die geringste Ahnung, was ihn erwarten mochte, doch vorsichtshalber rechnete er mit dem Schlimmsten. Erst jetzt stellte er überrascht fest, dass ihm am Leben doch noch etwas mehr lag, als er bisher geglaubt hatte.
Ich hirnverbrannter Vollidiot, wieso habe ich mich auf diesen Blödsinn eingelassen? , fragte er sich. Was habe ich denn von einer ledergebundenen Ausgabe der Canterbury Tales, wenn mich vielleicht gleich jemand über den Haufen schießt?
Gegen Dummheit kämpfen Götter selbst vergebens! Kunstschieberbanden, das wusste er nach vierzehn Jahren beim Ordnungsdienst zur Genüge, waren nicht zimperlich. Aber nun gab es kein Zurück mehr. In jeder Faser seines Körpers spürte er das beängstigend rasende Hämmern seines Herzens.
Er versuchte, es zu ignorieren und an irgendetwas anderes zu denken, ganz gleich was. Dünnbrot biss die Zähne zusammen und konzentrierte sich auf die Aussicht.
Vor ihm, unterhalb der Terrassenanlage, führten die steinernen Kaskaden der längst versiegten Wasserspiele talwärts, genau in der Mitte einer Waldschneise, die auf das ausgebrannte Schloss am Fuß des Hanges zulief. Dahinter erstreckte sich der weite Talkessel mit dem, was einmal die Stadt Kassel gewesen war. Gelegentlich riss die graue Wolkendecke auf und ließ einige Sonnenstrahlen hindurch, welche dann Teile des Ruinenfeldes in ein warmes, honigfarbenes Licht tauchten und der Szenerie eine verstörende Schönheit verliehen.
Nur für einige Sekunden vermochte das Panorama Dünnbrot abzulenken, dann musste er unwillkürlich wieder an die Situation denken, in der er sich befand. In ihm nagte die unheilschwangere Vorahnung, dass es für ihn nicht damit getan sein würde, die Begegnung mit dem geheimnisvollen Svensson zu überstehen. Er war auf Gedeih und Verderb an diesen Engländer gekettet, der, aus welchen Gründen auch immer, geradezu besessen war von seinem Auftrag und der außerdem viel zu leicht den Kontakt zur Wirklichkeit verlor und sich aberwitzigen Phantastereien hingab. Wie sonst hätte man es bezeichnen sollen, wenn er aus einem ehemaligen SS-Mann, einem alten Christusbild und einigen dahingekritzelten Worten in einem Notizbuch auf die Existenz einer geheimen Nazi-Organisation mit unheilvollen Plänen schloss und sich durch nichts von diesem Hirngespinst abbringen ließ?
»Er ist wahnsinnig«, sagte Dünnbrot fast lautlos zu sich selbst. »Ja, wahnsinnig.
Das wird böse enden.«

Tubber fühlte, wie seine um den Pistolengriff gekrampfte Hand immer feuchter wurde. Mit jeder Sekunde, die verstrich, wuchs seine Unruhe. Was, wenn er sich geirrt hatte und dies überhaupt nicht der verabredete Treffpunkt war? Diese Vorstellung hätte er am liebsten aus seinem Hirn verbannt, aber es war ihm nicht möglich.
Im Gegenteil, die Zweifel wurden umso größer und nagender, je länger der mysteriöse Kontaktmann auf sich warten ließ. Die Aufregung ließ ihn sogar den Schmerz vergessen, der auch an diesem Tag wieder rastlos in seinem Kopf bohrte und nagte.
Ständig fühlte Tubber den Drang, auf die Armbanduhr zu sehen, um sich zu vergewissern, dass es noch nicht halb zehn war und immer noch die Möglichkeit bestand, dass der große Unbekannte jeden Augenblick erschien. Doch jede unnötige Bewegung hätte ihn verraten können; also verharrte er regungslos.
Dann hielt er den Atem an. Seine Geduld wurde endlich belohnt. Ein Mann war erschienen und näherte sich langsam dem verkleideten Dünnbrot, wobei der Fremde immer wieder ängstlich um sich blickte. Fast hätte Tubber in seinem Versteck lauthals gelacht. Er würde seine Waffe nicht brauchen, so viel stand fest. Von dieser schmächtigen kleinen Gestalt, die vor Nervosität zitterte, ging nicht die geringste Gefahr aus. Zudem war dieser Mann bestimmt schon über sechzig Jahre alt. Die grauen Haare, die leicht wirr unter dem schmalkrempigen Hut hervorlugten, ließen an einen harmlosen Künstler oder einen etwas verschrobenen Gelehrten denken,
aber das Kennzeichen einer gefährlichen Kampfmaschine waren sie ganz gewiss nicht. Tubbers Finger an der Pistole entspannten sich ganz von selbst.

Dünnbrot hörte das leise Knirschen von Sohlen auf den verdreckten Steinplatten.
Hinter seinem Rücken näherte sich jemand mit zögerlichen und unsicheren Schritten.
Die Distanz war schwer einzuschätzen; doch sie wurde stetig geringer. Ihm war klar, dass

Weitere Kostenlose Bücher