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Im Jahre Ragnarök

Titel: Im Jahre Ragnarök Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Henkel
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Bauwerk tatsächlich recht nah kam.
Plötzlich musste er stehen bleiben. Etwas stimmte nicht. Die Bilder vor seinen Augen begannen zu flimmern wie die Luft an einem heißen Tag. Und dann geschah es.
Tubber konnte verfolgen, wie alles um ihn herum sich veränderte. Als würde sich ein Film entwickeln, tauchten aus dem Nichts Formen und Konturen auf, die vorher nicht dort gewesen waren, gewannen Schärfe und Gestalt, verfestigten sich.
Das zerstörte Brandenburger Tor wurde überlagert vom erst noch matten Schemen eines intakten, das dann immer mehr in den Vordergrund trat, bis die Ruine einfach verschwunden war. Dicht belaubte Baumreihen, die sich scheinbar aus der Luft materialisierten, verdrängten die ausgebombten Häuser rund um den Platz. Selbst der Himmel änderte sich; an die Stelle der grauen Wolken eines Märznachmittags trat fast schlagartig ein strahlendes Blau. Ja, Tubber spürte sogar die Wärme der Sonne.
Und es erschienen Menschen, wo zuvor keine gewesen waren, viele sogar. Tubber hörte das lebhafte Durcheinander ihrer Stimmen. Zwei Sekunden vorher noch war er allein über den verlassenen Platz gegangen. Nun stand er unversehens am Rand einer großen Menschenmenge.
Tubber wunderte sich, blieb aber zu seinem Erstaunen völlig ruhig. Sein Verstand sagte ihm, dass alles nur eine Illusion, ein Tagtraum sein konnte. Ein ungemein detaillierter und lebensnaher Tagtraum allerdings, wie er erstaunt feststellte.
Er drehte den Kopf nach allen Seiten. Schlaglichtartig nahm er einzelne Szenen wahr: einen Kavalier mit Dreispitz und Zopfperücke, der eine junge Dame mit Reifrock und kleinem Sonnenschirm am Arm führte; einen behäbigen, schnauzbärtigen Mann in einem abgewetzten blauen Rock, der sich über etwas ereiferte und ärgerlich seine Tonpfeife schwenkte; schmutzige Gassenjungen, die sich zwischen den Leuten hindurchdrängten.
Tubber sah, hörte, roch. Und dennoch fühlte er eine Distanz, eine barrierehafte Ferne. Was er wahrnahm, war eigentümlich gedämpft und indirekt, und das verlieh allem den unsichtbaren Firnis des Irrealen, der Tubber die beruhigende Gewissheit verlieh, nichts weiter als Zuschauer bei einem Schauspiel seiner eigenen Phantasie zu sein.
Der Klang schriller Pfeifen und rollender Trommeln ließ ihn aufschrecken. Nun erkannte er, worauf all die Menschen warteten: Soldaten zogen zur Parade auf. Tubber erkannte sie, es waren preußische Grenadiere mit ihren hoch aufragenden Mützen aus blankem Messing. Angeführt von Offizieren mit lanzenähnlichen Spontons marschierten sie über den Platz.
Auf einmal begann Tubber, sich unwohl zu fühlen. Die Sinneseindrücke wurden immer direkter, immer härter und greller, wirklicher. Er konnte fühlen, wie der schützende Abstand zur Illusion rasend schnell dahinschwand. Ich will hier raus!
Ich muss aufwachen! , hämmerte es in seinem Kopf. Er kniff sich in die Hand und spürte den Schmerz, doch nichts geschah. Der Traum blieb und drängte scheinbar unaufhaltsam der Realität entgegen. Die Klänge der Pfeifen und Trommeln, die Tritte der Soldaten auf dem Straßenpflaster, das unentwirrbare Geschwätz der Menschen um ihn – alles das verschmolz zu einem infernalischen Lärmwirbel, der Tubber erfasste und in die Tiefe zu reißen begann ...
»Herr Leutnant? Fühlen Sie sich wohl?«
Tubber fuhr zusammen. Es dauerte einen Moment, bis er sich wieder gefangen hatte und feststellte, dass Dünnbrot neben ihm stand und ihn am Arm gerüttelt hatte.
Alles war wieder, wie es sein sollte; ein grauer Himmel wölbte sich über einen von Ruinen gesäumten menschenleeren Platz.
Dünnbrot fragte noch einmal nach, und jetzt erst konnte Tubber auch reagieren.
»Ja ... ich glaube schon«, murmelte er unentschlossen.

»Ich sagte Ihnen doch schon, ich kann Sie nicht passieren lassen!«, wiederholte der entnervte amerikanische Sergeant, der den Posten am Schlagbaum befehligte, in breitestem Oklahoma-Akzent. »Der General ist zur Jagd, und wenn er wiederkommt, will er bis zu seiner Abreise nicht gestört werden.«
»Aber ich muss ihn unbedingt sprechen. Es wird sich doch irgendeine Möglichkeit finden lassen!«, redete Tubber beharrlich auf den Soldaten ein.
Doch der Sergeant ließ sich nicht umstimmen. »Sprechen Sie im Büro des Adjutanten in Berlin vor. Dann erhalten Sie vielleicht einen Termin im Juli oder August, wenn der General wieder anwesend ist«, lautete sein Rat. Es war offensichtlich, dass er den lästigen Engländer schnellstens abwimmeln wollte. Schon wollte

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