Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Im Jahre Ragnarök

Titel: Im Jahre Ragnarök Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Henkel
Vom Netzwerk:
hinzu: »Günter – ich meine, Kommissar Dünnbrot hat Chantal erzählt, dass Sie glauben, einer gefährlichen Verschwörung alter Nazis auf der Fährte zu sein. Für den Kommissar sind das Hirngespinste. Aber wenn es nun wahr sein sollte ...«
Ihr Griff um Tubbers Arm wurde fester, und sie blickte Tubber direkt an, während sie mit leiser, intensiver Stimme fortfuhr: »John, Sie sehen, was die Nazis aus diesem Land gemacht haben. Und indirekt auch aus Ihrem Land, aus ganz Europa ... vielleicht aus der ganzen Welt. Das ist Grund genug für mich, Ihnen beizustehen.
Sagen Sie mir nur eines: Denken Sie wirklich, dass es diese Verschwörung gibt?«
Tubber konnte nicht sofort antworten. Er wusste nicht, woran es lag, doch er spürte eine Veränderung in sich. Ein wenig Zuversicht kehrte zurück, die Hoffnung, dass vielleicht doch noch nicht alles verloren war. Aber da war noch mehr – ein eigenartiges, angenehmes und doch beunruhigendes Gefühl, das Tubber fremd erschien.
Dann plötzlich wurde ihm klar, woraus dieses unbekannte Gefühl erwuchs:
Greta glaubte an ihn. Verdiente er ihr Vertrauen überhaupt? Er war sich nicht sicher.
Zum ersten Mal sah er bestürzt die Möglichkeit, dass er sich auch diesmal wieder vorschnell in eine seiner Illusionen verrannt haben könnte. Gab es die große Verschwörung tatsächlich? Verbarg sich hinter dem Begriff Ragnarök ein furchtbarer Plan? Oder habe ich in die wenigen Fakten viel zu viel hineingedeutet? , fragte sich Tubber.
»Ich weiß es nicht«, gestand er schließlich. »Ich war mir sicher ... bis eben.«
»Dann sollten wir versuchen, die Wahrheit herauszufinden«, erwiderte Greta und griff nach dem Zündschlüssel.
* * *
    Greta Donath alleine im Auto zurückzulassen, das einige Meter entfernt hinter dem verwitterten Wrack eines deutschen Schützenpanzers verborgen war, hatte Tubber nicht riskiert. Sollte es zu Problemen kommen, wollte er sie wenigstens so gut es ging verteidigen können; dazu fühlte er sich verpflichtet. Daher kauerten sie gemeinsam hinter einer halb eingestürzten Ziegelmauer, ließen den Platz vor dem ausgebrannten Gemeinschaftshaus nicht aus den Augen und warteten schweigend.
Ein feiner, kühler Nieselregen ging nieder und versiegte wieder, während das Tageslicht schwand.
Tubber war ganz und gar nicht wohl zumute. Ihm bereitete Kopfzerbrechen, dass er keinen Plan für sein weiteres Vorgehen besaß. Was sollte er unternehmen, wenn Jakes und dessen Handelspartner auftauchten? Etwa furchtlos aus dem Versteck springen und sie so lange mit der Waffe in Schach halten, bis Greta Verstärkung geholt hatte? Diese Vorstellung fand Tubber lächerlich. Es wäre nicht mutig, nicht einmal leichtsinnig, sondern schlicht idiotisch. Schließlich wusste er ja noch nicht einmal, wie vielen Gegnern er sich gegenübersehen würde. Folglich blieb ihm nichts anderes übrig, als abzuwarten, wie sich die Dinge entwickelten, und dann spontan zu handeln, so wenig ihm das auch gefiel.
Einen weiteren Fehlschlag konnte er sich nicht mehr leisten. Das Telefonat mit Ingrid verfolgte ihn ständig. Die traurige Endgültigkeit ihrer Worte hallte noch immer in seinem Kopf nach. Im Geiste ohrfeigte er sich, weil er es überhaupt so weit hatte kommen lassen. Was sollte er ohne Ingrid anfangen? Sie war der eigentliche Inhalt seines Lebens gewesen, das war ihm erst jetzt schmerzhaft bewusst geworden. Die letzte vage Hoffnung, sie doch noch zurückzugewinnen, durfte er nicht leichtfertig verspielen. Er musste unter Beweis stellen, dass er weder unzurechnungsfähig noch ein Versager war. Davonlaufen oder zurückweichen konnte er nicht mehr. Ihm war, als stünde er mit dem Rücken am Abgrund.
Die eigenartige Umgebung trug das ihrige zu Tubbers düsterer Stimmung bei. Je weiter die Abenddämmerung fortschritt, desto stärker empfand der Engländer die drückende Atmosphäre des Unheils, die über der zerstörten und verlassenen Invalidensiedlung lag. Vielleicht waren die zweistöckigen Backsteinhäuser, gruppiert um einen kleinen Park in Form eines länglichen Hufeisens, einmal schön anzusehen gewesen. Aber das konnte Tubber nur mutmaßen. Außer von Geschossen und Feuer ausgeweideten Ruinen hatte nichts die letzten Kriegstage überdauert. Greta hatte ihm von den Kämpfen erzählt, die hier, am nördlichsten Rand Berlins, im Sommer 1945 gewütet hatten. Es kostete Tubber nicht viel Vorstellungskraft, sich auszumalen, dass der Boden, auf dem er gerade kniete, buchstäblich blutdurchtränkt

Weitere Kostenlose Bücher