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Im Jahre Ragnarök

Titel: Im Jahre Ragnarök Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Henkel
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sie nicht eingehen. Schließlich ließ sie sich auf einen Kompromiss ein, indem sie die Schlüssel ihrer Freundin übergab, die sich bereit erklärt hatte, einen Teil ihres freien Tags zu opfern und Tubber zum Liaison Office zu bringen.

Die Fahrt durch Berlin erschien Tubber wie eine makabere Sightseeing-Tour zu den zerfallenen, von einer untergegangenen, fremdartigen Kultur hinterlassenen Monumenten.
Zunächst durchquerten sie den Tiergarten, eine ausgedehnte Brachfläche, auf der kein einziger Baum stand. Nur Hunderte von Kratern im sandigen Boden verrieten, wo man kostbares Feuerholz bis zur letzten Wurzel ausgegraben hatte.
Die Siegessäule im Zentrum des Großen Sterns war nur mehr ein gespaltener Stumpf inmitten eines Schutthügels, und der Reichstag, letzte Bastion der zu allem entschlossenen baltischen und französischen SS-Einheiten, die sich im Juni 1945 dort verschanzt hatten, bestand nur noch aus den feuergeschwärzten und von unzähligen Granaten vernarbten Außenmauern. Daneben erhob sich noch immer das Brandenburger Tor, durch dessen mittlere Durchfahrt Greta Donath den Wagen lenkte, doch in den mörderischen Gefechten der letzten Kriegstage waren die sechs Pfeiler durch den Hagel der Geschosse auf ihre nackten Steinkerne reduziert worden.
Abseits der verstreuten Ruinen einstmals berühmter Bauwerke breiteten sich so weit das Auge reichte Trümmer aus, durchsetzt von wucherndem Unkraut. Was von den Gebäuden noch stand, war oft bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt. Alles zusammen bildete ein monströses, furchterregendes Denkmal für die zweiwöchige Schlacht um Berlin, die Hunderttausende von Menschenleben verschlungen hatte.
Mit Schaudern erinnerte sich Tubber, dass er diesem Orkan der Vernichtung nur durch blanken Zufall entgangen war. Er hatte im Sommer 1945 mit einem gebrochenen Knöchel im Lazarett gelegen, während General Eisenhower die britische 8.
Armee in den blutigen Häuserkampf um Berlin vorschickte.
»Kaum zu glauben, dass hier noch Menschen leben«, murmelte er, als er einige Frauen mit ungefügen Handkarren am Straßenrand sah.
»Sogar mehr, als Sie vielleicht denken«, bemerkte Greta. »Die amerikanischen Behörden schätzen die Einwohnerzahl auf etwa achtzigtausend. Genau weiß das natürlich niemand. Die meisten leben allerdings in den weniger zerstörten Randbezirken, wo sie sich aus Gärten einigermaßen selbst versorgen können.«
Wortlos nickte Tubber. Trümmerhaufen und geborstene Häuserfassaden zogen jenseits des beschlagenen Fensters wie substanzlose Nebelbilder vorüber. Merkwürdig, wie schnell man sich an den Anblick der Zerstörung gewöhnt , dachte er.
Ein absonderliches Gefühl überkam ihn, eine diffuse Mischung aus Melancholie, Schrecken und Gleichgültigkeit. Doch es wurde sofort wieder vertrieben, denn Greta Donath trat auf die Bremse und brachte den Chrysler mit einem harten Ruck zum Stehen.
»Wir sind da«, sagte sie. »Lassen Sie sich Zeit, John. Ich warte inzwischen.«

Beim Wachhabenden in der Eingangshalle meldete Tubber den Standort des liegengebliebenen Wagens, was er am Abend zuvor versäumt hatte. Als er für Rückfragen seine gegenwärtige Anschrift angeben sollte, nannte er Greta Donaths Wohnung.
Sollte sich doch Dünnbrot, der mit Sicherheit den ganzen Tag über das Haus nicht verlassen würde, damit herumschlagen, wenn jemand vom Fuhrpark Auskünfte für irgendwelche Berichte benötigte.
Nachdem das erledigt war, begab Tubber sich in den Fernsprechraum, präsentierte dem Sergeant dort seinen Dienstausweis und verlangte zwei Verbindungen.
»Mit welchen Dienststellen, Sir?«, wollte der Soldat wissen.
»Streng geheim«, entgegnete Tubber und blickte sich dabei demonstrativ um, als wollte er sich vergewissern, dass sich wirklich niemand sonst im Raum befand.
»Ich rate Ihnen, die Nummern, die ich Ihnen nenne, anschließend sofort wieder zu vergessen ... verstanden?«
»Jawohl, Sir!«, bestätigte der Sergeant eilig.
Tubber, zufrieden mit dem Effekt seines bewusst leicht übertriebenen Auftritts, sagte langsam und betont die beiden Telefonnummern auf. Eine davon, der Anschluss von Sir Hugh Holbornes Büro, war in der Tat so geheim, wie er angedeutet hatte. Die andere jedoch gehörte zu Ingrids Geschäft. Dienstapparate für Privatgespräche zu nutzen war streng untersagt, aber Tubber musste einfach mit seiner Frau sprechen. Ein kleines Täuschungsmanöver, das letztlich niemandem schadete, erschien ihm dafür legitim.
Er betrat eine der Fernsprechkabinen

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