Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Im Jahre Ragnarök

Titel: Im Jahre Ragnarök Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Henkel
Vom Netzwerk:
für Tubber vorerst nur von untergeordneter Bedeutung. Er hatte den Entschluss gefasst, dieses Paradoxon zu ignorieren; eine andere Wahl gab es nicht, wenn er sich den Verstand bewahren wollte.
Angestrengt behielt Tubber die Rücklichter der Wagen vor sich im Auge. Die rot glühenden Punkte waren die einzigen Orientierungsmarken im Dunkel, das sich gleichmäßig nach allen Seiten ausbreitete. Jede unerwartete Wegbiegung, jedes der unzähligen Schlaglöcher bedeutete eine Gefahr. Die Verfolgung war ein riskantes Glücksspiel, und es kostete Tubber viel Mühe, seine Anspannung vor Greta zu verbergen.
Weder wusste Tubber, wo er sich befand, noch in welche Richtung er fuhr. Nur einmal, als für wenige Sekunden die Wolkendecke aufriss und fahles Mondlicht die Nacht aufhellte, konnte er am Straßenrand ein verwittertes Schild mit dem Ortsnamen Finowfurt erkennen.
»Wir sind in der Schorfheide«, erklärte Greta. »Ein großes Waldgebiet nördlich von Berlin.« Tubber nahm den Hinweis mit einem kurzen Kopfnicken zur Kenntnis. Schorfheide ... das kommt mir bekannt vor. Aber woher nur? , fragte er sich. Der Klang des Wortes löste undeutliche Assoziationen aus, ferne Erinnerungen, die sich verflüchtigten, bevor sie deutliche Gestalt annehmen konnten. Etwas anderes hingegen hatte Tubber ganz klar im Gefühl: Das Ziel der Fahrt konnte nicht mehr weit sein.
Welchen besseren Standort konnte es für ein geheimes Ausbildungslager geben als einen ausgedehnten Wald, in den sich sicher nur wenige verirrten?
»Hierher kommen bestimmt nicht viele Menschen«, bemerkte er und blinzelte mehrmals, ohne den Blick von den Rücklichtern zu lösen. Seine Augen waren trocken und schmerzten.
»Eigentlich überhaupt keine«, bestätigte Greta. »Die Handvoll Dörfer, die es hier gab, sind verlassen. Und an den Ruinen von Carinhall haben die Amerikaner längst das Interesse verloren.«
Tubber horchte auf. Carinhall! Nun wusste er wieder, woher ihm der Name der Schorfheide vertraut war. Hier hatte sich Hitlers Reichsmarschall Hermann Göring seine kolossale Residenz errichten lassen, benannt nach seiner ersten Ehefrau. Ein alle Maßstäbe sprengender Landsitz auf dem er, umgeben von zusammengerafften Kunstschätzen aus ganz Europa, wie ein Feudalherr der Renaissance Hof gehalten hatte. Göring hatte Carinhall beim Herannahen der alliierten Truppen 1945 in die Luft sprengen lassen, kurz bevor der Reichsmarschall, der offenbar keine Neigung hatte, gemeinsam mit seinem Führer in einem Bunker in Berlin zu sterben, spurlos verschwunden war.
»Carinhall«, murmelte Tubber mehrmals nacheinander. Er ahnte nun, wo diese Fahrt enden würde.

Vorerst wurde diese Ahnung weder bestätigt noch widerlegt. Die Verfolgung wollte kein Ende nehmen und wurde zudem ständig schwieriger, da sich nun immer häufiger die schwarzen Wolken teilten und blasses Mondlicht für einige Sekunden die schützende Dunkelheit verdrängte. Inständig hoffte Tubber, dass keiner der beiden SS-Männer in den Lastwagen auf die Idee kam, ausgerechnet in diesen Momenten in den Rückspiegel zu sehen. Bisher deutete nichts darauf hin, dass ihnen etwas aufgefallen sein könnte, doch mit jeder neuen Wolkenlücke musste Tubber erneut die Zähne zusammenbeißen und das Beste erhoffen. Vorsichtshalber vergrößerte er den Abstand ein wenig.
Die Wege wurden immer verschlungener und schlechter, je tiefer sie in den Wald führten. Tubbers Handgelenke schmerzten von den harten Stößen, die bei jeder Bodenwelle und jeder Unebenheit durch die Lenksäule übertragen wurden, während er das Steuerrad fest im Griff behalten musste, damit der Wagen durch die Unebenheiten nicht ausbrach. Einige Male verlor er die roten Lichter an unvorhersehbaren Wegbiegungen beinahe aus den Augen.
Plötzlich, nachdem er den Lastwagen abermals um eine enge Kurve gefolgt war, flammten vor ihm Bremsleuchten auf. Sofort trat auch Tubber auf die Bremse,
brachte den Chrysler zum Stehen und schaltete den Motor aus. Dann ließ er das Fenster herunter und versuchte, etwas von dem zu erkennen, was vor ihm lag.
Viel machten die Scheinwerfer der Lastwagen nicht sichtbar. Im diffusen Streulicht ragte auf jeder Seite der Straße der Schatten eines recht großen Gebäudes auf.
Gleich dahinter befanden sich, von den Lichtkegeln hell angestrahlt, zwei große Torpfeiler, welche die Straße wie ein Portal flankierten. Die schweren Motoren der Laster tuckerten im Leerlauf.
Einigermaßen deutlich konnte Tubber ausmachen, wie ein Mann in

Weitere Kostenlose Bücher