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Im Jahre Ragnarök

Titel: Im Jahre Ragnarök Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Henkel
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und hätten sich gegenseitig umgebracht. Zumindest baute Tubber auf diesen Eindruck, wenn sich auch ein Gerichtsmediziner gewiss nicht von der improvisierten Inszenierung irreführen lassen würde. Aber es genügte ja schon, wenn etwa die Wachablösung der Täuschung aufsaß. Er korrigierte noch einige Kleinigkeiten an der Haltung der Toten, die ihm zu unglaubwürdig vorkamen. Dann lief er zurück zum Auto.

Diesmal protestierte Greta nicht dagegen, dass sie zurückbleiben und warten sollte.
Tubber stellte den Wagen hinter der Ruine des rechten Hauses ab und schärfte ihr nochmals ein:
»Beim kleinsten Anzeichen von Gefahr treten Sie das Gaspedal durch und verschwinden von hier, so schnell Sie können!«
Er hatte bei diesem Satz schon einen Fuß zum Aussteigen aus der Tür gesetzt, als Greta ihn am Arm festhielt. »Und was soll dann aus Ihnen werden, John?«
»Ich ziehe mich schon irgendwie aus der Affäre. In meinem Beruf entwickelt man notgedrungen ein Talent dafür«, versicherte er. »Machen Sie sich darum keine Sorgen. Es reicht, wenn ich mir welche um Sie mache.«
Er sah ihr mit einem aufmunternden Lächeln in die Augen; ihre Hand löste sich wieder von seinem Ärmel. Tubber stieg aus dem Wagen, doch er stellte dabei irritiert fest, dass es ihn ein wenig Überwindung kostete, sich von Gretas Blick loszureißen. Ihm war ein Rätsel, wieso.

Jenseits des Tores zerteilte eine breite Allee pfeilgerade den Wald. Tubber folgte der Straße, hielt sich dabei jedoch ständig am Wegesrand, um jederzeit durch einen Sprung zur Seite hinter einem der Alleebäume oder im hohen Gestrüpp in Deckung gehen zu können. Doch dazu kam es nicht. Unbehelligt ging er immer weiter auf der sich schier endlos hinziehenden Straße, umgeben von nahezu totaler Stille.
Das leise Knirschen von Kies unter seinen Sohlen war das einzige Geräusch.
Je länger sich die Allee in stumpfer Geradlinigkeit ihre Schneise durch die Nacht schnitt, desto unbehaglicher fühlte Tubber sich. Teils war es die Ungewissheit über das, was ihn am Ende des Weges erwartete, teils der Kopfschmerz, den er den ganzen Tag über kaum bemerkt hatte, der ihn dafür jetzt aber besonders grausam heimsuchte.
Tubber versuchte beides zu ignorieren, mit mäßigem Erfolg. Ja, alles wurde sogar noch schlimmer, weil er nun auch noch ungewollt ins Grübeln über Gott und die Welt verfiel, von seiner zerbrechenden Ehe bis hin zu der verlorenen Trostlosigkeit des Landes, in dem er sich gezwungenermaßen aufhielt. Er fühlte den wachsenden Drang, irgendeine belanglose Melodie zu pfeifen, nur um sich von diesen Überlegungen abzubringen und wieder einen halbwegs klaren Kopf zu bekommen.
Lange musste er diesem absurden Verlangen aber nicht widerstehen, denn urplötzlich zog etwas seine gesamte Aufmerksamkeit auf sich und verdrängte sofort die chaotisch wuchernden Gedanken aus seinem Bewusstsein: Ganz leise hörte er verstreute Klänge von Musik.
Sie kamen dorther, wo die Allee in die Nacht hineinstach. Tubber verharrte kurz und lauschte intensiv. Die Klangfetzen fügten sich zu längeren Sequenzen zusammen, aus denen sich ihrerseits die gleichförmigen harten Takte deutscher Militärmärsche herauskristallisierten. Die Quelle der Musik musste sich eindeutig irgendwo dort befinden, wo die Straße zwischen den schwarzen Schatten dicht beisammenstehender Bäume verschwand.
Noch vorsichtiger als zuvor setzte Tubber seinen Weg fort. Die Musik wurde lauter und deutlicher. Als Tubber ihrem Ursprung so nah gekommen war, dass er sogar das Knacken der Schallplatte und die Verzerrungen der Lautsprecher, aus denen die Pauken, Trompeten und Schellenbäume dröhnten, klar heraushören konnte, sah er einen hellen Lichtschein zwischen den Bäumen.
Er verließ die Allee und arbeitete sich zwischen schützenden Büschen hindurch vorwärts, erst tief geduckt, dann flach auf dem klammen Boden kriechend, immer in Richtung des Lichtes. Die laute Musik machte es ihm leicht, unbemerkt zu bleiben; die wenigen Geräusche, die er verursachte, wurden von den krachenden Tönen der Märsche verschlungen. Nur wenn eine Schallplatte zu Ende war und gegen die nächste ausgewechselt wurde, musste er einige Sekunden ruhig innehalten.
Nach drei solcher Unterbrechungen hatte Tubber sein Ziel fast erreicht. In geringer Entfernung konnte er hinter struppigem Buschwerk undeutlich die Hecks mehrerer Lastwagen mit weißen Aufbauten ausmachen; ihre Scheinwerfer waren auf die Mitte einer Lichtung gerichtet. Er kroch weiter, und

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