Im Jahre Ragnarök
ein. Seine Darstellung war distanziert, von fast schneidender Sachlichkeit; nur auf diese Weise konnte er Abstand zu den wieder zurückkehrenden albtraumhaften Bildern des Massakers in Carinhall wahren.
Auf Tubbers Worte folgte ein beklemmendes Schweigen. Chantal war blass geworden, und ein zittriges Flackern in Dünnbrots Blick verriet, dass seine desillusionierte Unerschütterlichkeit zerbröckelt war.
Nach einigen zäh verronnenen Sekunden durchbrach Dünnbrot die Stille. »Ich habe wohl falsch über Sie gedacht, Herr Leutnant«, meinte der Polizist leise. »Sie sind offenbar doch kein Spinner, der hirnrissigen Halluzinationen nachjagt.«
Tubber wollte auf dieses zweischneidige Eingeständnis des Deutschen zunächst mit einer zynischen Erwiderung reagieren; doch er unterließ es und beschränkte sich auf ein unverbindliches Kopfnicken. »Ihr seht, die Bedrohung ist echt«, sagte Greta. »Aber was jetzt?«
»Ja, was jetzt?«, wiederholte Tubber unentschlossen. Er wusste nicht, wie es weitergehen sollte. In seinem Kopf blitzte ein furchterregendes Bild auf: Er stand am Meeresufer und sah eine haushohe Flutwelle auf sich zurollen, ein unausweichliches Verhängnis, vor dem es kein Entrinnen gab und das er auch nicht aufhalten konnte.
»Ich weiß, was wir tun können!«, warf Chantal ein. »In Dresden gibt es einen Posten der U.S. Constabulary. Etwa 150 Mann, die für die Sicherung der Wege zu den Bergwerken zuständig sind. Die sollen sich um die Nazis in Pirna kümmern!
Mit ein wenig Glück weiß dort niemand, dass die CIG nach uns fahndet.«
Tubber schüttelte skeptisch den Kopf. »Und wenn sie's doch wissen oder, was noch wahrscheinlicher ist, uns ganz einfach kein Wort glauben?«
»Wir werden ihnen Beweise bringen«, entgegnete Chantal. »Haben Sie das Lederetui ganz hinten im Handschuhfach bemerkt? Darin befindet sich meine Polaroidkamera.
Wir fahren zunächst nach Pirna, verbergen uns und machen Fotos, wenn sich die Nazis sammeln. Da die Fahrzeugkolonnen ja aus mehreren Ausbildungslagern kommen, wird sich das eine Weile hinziehen. Uns bleibt bestimmt genug Zeit, dem amerikanischen Kommandanten in Dresden die Bilder auf den Tisch zu legen.
Was sagen Sie zu diesem Plan, John?«
»Ich frage mich, weshalb Sie eine sündhaft teure Sofortbildkamera besitzen, und warum sie die ausgerechnet im Auto aufbewahren.«
»Möchten Sie, dass ich Ihnen die sexuellen Vorlieben einiger meiner Kunden im Detail erläutere?«
Tubber verneinte hastig und ließ sich Chantals Vorschlag durch den Kopf gehen.
Glücklich war er über den Plan, der direkt in die Höhle des Löwen führte, keineswegs.
Aber er hatte keinen besseren, also stimmte er zu. Er zeigte Dünnbrot im Straßenatlas das Fahrtziel, das unübersehbar markierte Pirna.
»Kein Problem. Na ja, kein großes«, befand der Deutsche. Bis nach Dresden, meinte er, könnten sie auf der Autobahn gelangen, denn die ehemalige Schnellstraße wurde von den Amerikanern als Verbindung zu ihren Uranbergwerken im Erzgebirge in befahrbarem Zustand gehalten. »Und wenn nichts dazwischenkommt, könnten wir Pirna bis zum Abend erreichen«, schätzte er. »Sie wissen ja, Nachtfahrten auf der Autobahn sind zu gefährlich.«
»Ja, ja, verstehe«, sagte Tubber, der dem übervorsichtigen Dünnbrot gerne ausführlich erzählt hätte, wie er in der letzten Nacht sogar zerfurchte Waldwege hinter sich gebracht hatte, und das zum Teil ohne Scheinwerferlicht. Aber er war nicht in der Stimmung, Diskussionen vom Zaun zu brechen. Die ständig mahlenden Kopfschmerzen machten ihm wieder einmal zu schaffen, und aus seinem mittlerweile chronisch rebellierenden Magen drang Galle bis in den Rachen. Hinzu kam noch, dass der Druck einer ungewohnten Verantwortung schwer auf ihm lastete: Ihm war klar, dass er Erfolg haben musste, wenn alle rehabilitiert werden sollten, die er in diese Sache hineingezogen hatte und die durch ihn zu Gejagten geworden waren. Kommissar Dünnbrot, Chantal Schmitt und besonders Greta Donath, der er durch sein Auftauchen ungewollt die gesicherte Existenz unter den Füßen weggerissen hatte. Sonst kümmerte er sich nicht besonders um das Schicksal der Menschen, deren Wege er bei seinen Einsätzen kreuzte, doch diesmal war das anders, und das verstörte ihn.
Und Ingrid? , fragte er sich. Kann ich sie zurückgewinnen, wenn ich vielleicht wirklich als so was wie ein Held nach Hause komme? Oder ist es zu spät, ein für allemal? Nicht daran denken, bloß nicht daran denken! Erschöpft rieb Tubber
Weitere Kostenlose Bücher