Im Jahre Ragnarök
wollte er sich nun auch noch die Blöße von Tränen geben. Und obendrein hatte er in Gretas Gegenwart ein merkwürdiges Gefühl, das er nicht einordnen konnte, das ihn aber verwirrte. Er wusste nicht recht, wie er reagieren oder was er als Nächstes sagen sollte. Darum verspürte er große Erleichterung, als Dünnbrots Rufe die seltsame Situation abrupt beendeten.
»Kommen Sie schnell! Ein Lastwagen!«, brüllte der Kommissar dem Engländer zu.
Tubber rannte, dicht gefolgt von Greta, zur Straße zurück. Tatsächlich, ein olivgrüner Laster der US-Armee näherte sich von Norden. Flugs richtete Chantal ihre Uniform, stellte sich auf die Mitte der Fahrbahn und forderte den Fahrer mit einem weit ausgreifenden Schwenken des Arms zum Anhalten auf.
Die Bremsen des Lastwagens quietschten und brachten den mächtigen Dreiachser zum Stillststand. Chantal trat mit Tubber an das Fahrerhaus heran. Die Tür wurde schwungvoll aufgestoßen und ein Sergeant, dem die dunklen Haare wirr unter der schiefen Mütze hervorquollen, blickte heraus, eine Zigarette lässig im Mundwinkel.
Ein Windstoß trieb etwas von dem Zigarettenqualm zu Tubber, der den süßlichen Geruch nach vielen Jahren im Orient nur zu gut kannte. Er war nicht begeistert von der Aussicht, sein Leben in die Hände eines Fahrers mit cannabisumnebeltem Hirn zu legen. Dennoch ließ er sich nichts anmerken und verzog keine Miene.
Chantal hatte ein befehlsgewohntes Gesicht mit bedrohlich zusammengezogenen Augenbrauen aufgesetzt, doch, noch bevor sie ihrer Rolle gemäß barsch den Wagen beschlagnahmen konnte, lachte der Sergeant lauthals auf und platzte heraus:
»Gee, das gibt's doch nicht! Miss Schmitt! Was hat Sie denn in diese Wildnis verschlagen?« Augenblicklich zerfiel Chantals Maske und wich einem Ausdruck perplexen Erstaunens.
»Sie ... Sie kennen mich?«, stotterte sie fassungslos.
Der Sergeant zog den Mund zu einem etwas schmierigen Lächeln in die Breite.
»Na klar doch. Ich bin Ihnen aber nicht böse, wenn Sie sich an mich nicht erinnern.
Sergeant Kerouac, ich war eine Zeit lang Colonel McClams Fahrer. Mann, Mann, was Sie mit dem auf dem Rücksitz so alles angestellt haben ... war gar nicht so leicht für mich, auf die Straße zu achten, statt gebannt in den Rückspiegel zu starren.«
Er lachte erneut auf, doch Tubber fühlte sich durch dieses Thema peinlich berührt.
Chantal hingegen, so schien ihm, störte sich nicht im Geringsten daran, dass sich dieser Amerikaner ungeniert über Details ihres Gewerbes ausließ, was dem Engländer zusätzlich unangenehm war. Offensichtlich war sie nur verärgert, dass ihre Verkleidung diesmal versagt hatte, Der Kopf eines weiteren G.I.s, einige Jahre jünger und mit einer auffälligen schwarz gerahmten Brille auf der Nase, tauchte hinter Kerouac auf.
»Gosh, Sarge! Ist das etwa die Chantal Schmitt, von der Sie ständig erzählen?«, fragte er neugierig. »Die red-hot wicked mother ?«
Kerouac drückte ihn mit einer Armbewegung wieder nach hinten zurück. »Private Holley, mein Beifahrer. Er singt oft, und das ist gut so. Dann kann er wenigstens nicht reden. Also, Miss Schmitt, wieso stehen Sie denn nun hier herum, kostümiert wie zu 'ner verdammten Parade?«
Ungeduldig ging Tubber dazwischen und erklärte, dass ihr Wagen eine Panne hatte und dass sie unbedingt auf schnellstem Wege nach Pirna gelangen mussten.
Sergeant Kerouac hörte ihn an und kratzte sich am unrasierten Kinn. Der Name sagte ihm nichts, bis Private Holley ihn aufklärte, dass es sich um eine verlassene Kleinstadt südlich von Dresden handelte, unmittelbar am Rande der Milzbrand-Sperrzone.
Der Sergeant schnalzte mit den Fingern. »Dresden? Na so'n Zufall! Dresden liegt auf unserer Route nach Aue. Da legen wir einen Zwischenstopp zum Tanken ein. Wissen Sie was? Ich nehm' Sie mit!«
»Aber Sarge«, wandte Holley mit gespielter Besorgnis ein, »ist das denn nicht gegen die Vorschriften?«
Kerouac zog noch einmal an der Zigarette, warf den glimmenden Stummel in hohem Bogen fort und entgegnete in vollem Ernst: »Eben. Grund genug für mich, es zu tun. Ich kann Vorschriften nicht ausstehen. Holen Sie Ihre Sachen und schwingen Sie sich auf die Ladefläche, da ist noch jede Menge Platz.«
Zum ersten Mal in seinem Leben war Tubber froh, einem disziplinlosen Soldaten begegnet zu sein. Er bedankte sich und lief dann mit Dünnbrot zum Heck des Lastwagens, wo sie die Ladeklappe hinunterließen und die Verschlüsse der Plane öffneten, während Greta und Chantal die wenigen
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