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Im Jahre Ragnarök

Titel: Im Jahre Ragnarök Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Henkel
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sich die brennenden Augen und drehte sich herum, um Greta zu versichern, wie sehr er alles bedauerte, was sie seinetwegen durchzustehen hatte. Doch sie schlief tief und fest. Nun erinnerte Tubber sich, dass er ebenfalls seit vierundzwanzig Stunden nicht mehr geschlafen hatte. Schlagartig überkam ihn eine übermächtige Müdigkeit. Unkonzentriert riss er noch den großen Umschlag auf und stopfte seine Habseligkeiten wieder in die Taschen seines Anzugs. Dann lehnte er den Kopf gegen das Fenster und sackte augenblicklich in einen bleiernen Schlaf.
* * *
    Er wusste, dass er träumte. Er wusste es ganz genau, und er akzeptierte die Irrealität seiner Wahrnehmungen, so wirklich sie auch erscheinen mochten. Von dem Moment an, als Tubber sich unversehens am Rande eines Felsvorsprungs wiederfand, war ihm absolut bewusst, dass er in Wahrheit immer noch in einem fahrenden Auto saß.
Verirrte Schneeflocken wirbelten vor seinen Augen im eisigen Wind, und die Kälte krallte sich in die Haut seines Gesichts. Tubber ließ den Blick nach allen Seiten schweifen. Er wollte wissen, wie die Welt aussah, die sein Hirn für ihn erschaffen hatte. Doch er verspürte rasch eine gewisse Enttäuschung, denn seine Umgebung hatte so gar nichts von einer phantastischen Traumlandschaft an sich. Er sah winterliche Bergmassive, deren tiefer gelegene Hänge dicht mit verschneiten Tannenwäldern bestanden waren. Die bleigrauen Wolken hingen so tief, dass sie die höchsten der schartigen Berggipfel streiften. Es war ein erhabenes Panorama.
Doch als Traumgebilde war es zu wirklichkeitsnah, um Tubber zu faszinieren.
Da die Berge und der Himmel ihm keine Überraschungen boten, schaute er ins Tal. Und zu seinem Erstaunen bemerkte er, dass dieser Traum noch viel realistischer war, als er geglaubt hatte: Augenblicklich überkam ihn Höhenangst, als er den steilen Felsabhang hinabsah. Ihm wurde schwindlig, und er trat unwillkürlich einen Schritt zurück.
Nachdem er sich wieder gefasst hatte, machte er sich klar, wie unsinnig es war, in einem Traum Höhenangst zu empfinden. Trotzdem kostete es ihn Überwindung, nach unten zu sehen. Aber es gelang ihm, und nun stellte er fest, dass er nicht alleine in seiner Traumwelt war. Unten im Tal bahnte sich ein endlos scheinender Zug von Menschen und Tieren einen Weg durch den Schnee. Die Winterluft war erfüllt mit den widerhallenden und sich überlagernden fernen Echos ihrer Geräusche. Aus dem Chaos der Klänge glaubte Tubber das Klirren von Waffen, Flüche in unverständlichen Sprachen und das Schnauben erschöpfter Pferde herauszuhören. Und das röhrende Trompeten von Elefanten.
Tubber kniff die Augen zusammen und starrte angestrengt auf den Heerzug, der sich durch das enge Tal wand. Tatsächlich, er konnte eine Kolonne grauer Kolosse ausmachen, die stoisch dahinstapften. Mit einem Mal war ihm klar, wohin ihn sein Gehirn versetzt hatte. Sein Traum machte ihn zum Zeugen von Hannibals Überquerung der Alpen.
Aber war es denn tatsächlich ein Traum? Die Dichte der Sinneseindrücke begann Tubber zu verunsichern. Alles schien umso wirklicher, je länger der Traum andauerte. Er spürte die klirrend kalte Luft bei jedem Atemzug in seine Lungen strömen, er spürte den schneidenden Wind, er spürte selbst eine einzelne Schneeflocke, die auf seiner Nase landete. Wenn er die Füße bewegte, knirschte der gefrorene Schnee unter seinen Sohlen, und die Kälte ließ schleichend das Gefühl aus seinen Zehen weichen.
Furcht packte ihn. Was, wenn das alles nun gar kein Traum war? Er wollte sich beruhigen, sich bewusst machen, wie töricht dieser Gedanke war. Doch die Angst wurde immer stärker. Er musste diesem Traum entkommen! Aber wie? Er musste aufwachen, schnellstens aufwachen! Und nun begann auch noch der Boden unter seinen Füßen zu beben ...
»Aufwachen, Herr Leutnant!«
Tubber schreckte hoch.
Die Alpenlandschaft seines Traums war zerplatzt und verschwunden. Und da war auch kein Erdbeben, sondern nur Kommissar Dünnbrot, der ihn kräftig an der linken Schulter rüttelte.
»Ja, ja, schon gut! Ich bin ja wach!«, knurrte Tubber gereizt. Er blinzelte mehrmals nacheinander, um den milchigen Schleier von den Augen zu vertreiben. Seine Benommenheit begann zu weichen, und er bemerkte jetzt erst, dass der Wagen stand und die beiden Frauen fort waren.
»Sind wir etwa schon da?«, fragte er irritiert.
Dünnbrot schüttelte den Kopf. »Es gibt Probleme«, entgegnete er düster. »Wir können nicht weiter. Eine von Smith' Kugeln hat

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