Im Jenseits ist die Hölle los
musterte mich nicht etwa, nein, es schien vielmehr, als sei ihm alles, was ihm begegnete, bereits bekannt. Er wirkte freund lich und flößte dem Gesprächspartner gleich Respekt ein. Pälsi fuhr fort.
»Wie Sie vielleicht wissen, war ich seinerzeit Forscher für Steinzeitgeschichte, arbeitete hier im Museum. Nun, bereits vor dem Ersten Weltkrieg hatte ich die ausge zeichnete Gelegenheit, in Antrea auf der karelischen Landenge Ausgrabungen durchzuführen. Dort fand ich die vielleicht wichtigsten Beweise für unsere steinzeitli che Kultur, Beweise dafür nämlich, dass schon zu jener Zeit nördlich des Finnischen Meerbusens Menschen lebten.«
»Zu jener Zeit waren der Ladoga und der Finnische Meerbusen ein und dasselbe Meer«, ergänzte Huretta. »Die Newa gab es noch gar nicht.«
»Ganz recht, Huretta stammt nämlich genau von dort. Sie glauben gar nicht, wie glücklich ich war, als ich ihn voriges Jahr zufällig in Antrea traf. Dort saß er einfach am Fuße eines Baums, Finnlands ältester Toter! Solch märchenhaftes Glück hat ein Archäologe nur einmal im
Leben«, erzählte Pälsi begeistert.
»Einmal im Tod«, stellte Huretta richtig. »Ja, natürlich, mein lieber Freund. Aber vielleicht be
anspruchen wir ganz unnötig Ihre Zeit, vielleicht inte ressiert Sie die finnische Frühgeschichte längst nicht so wie mich«, meinte Pälsi dann.
Aber ich war grenzenlos begeistert. Ich sagte, wenn sie nichts dagegen hätten, würde ich mich gern mit ihnen über die alten Zeiten unterhalten. Vielleicht könn te mir Huretta erzählen, wie die Leute damals gelebt hatten.
Pälsi war das sehr recht, er sagte, dass sich die Toten von heute kaum für die ganz alten Zeiten interessierten, und der gleichen Meinung war auch Huretta. Wir zogen uns in einen der Büroräume des Museums zurück, um weder von Lebenden noch von Toten gestört zu werden, und dann begann Huretta in seiner langsamen und ruhigen Art zu sprechen:
»Es waren schon besondere Zeiten«, sagte er. »Zu nächst einmal: Brot gab es damals nicht.«
»Was habt ihr denn gegessen, wenn es doch kein Brot gab?«, fragte ich in meiner Naivität.
Huretta streifte mich mit einem Seitenblick, ehe er erklärte, dass die Nahrung hauptsächlich aus Robben fleisch, Talg und größeren Wildtieren bestand, auch Aas habe man oft mit den Geiern um die Wette reißen müs sen.
»Fleisch boten uns auch Mäuse und Maulwürfe, die bereits damals sehr zahlreich vorkamen und eine regel rechte Landplage waren. Ferner rissen wir an den Rän dern der Sümpfe Drachenwurz aus, den wir mit der Steinaxt in Stücke hackten, trockneten und zu Mehl zerrieben. Die Frauen rührten daraus, zusammen mit Robbenblut, einen recht schmackhaften Teig, der auf heißen Steinen gebacken wurde. Beeren gab es kaum in den Wäldern, die wenigen, die da waren, wurden natür lich gegessen. Übrigens, die Wälder bestanden haupt sächlich aus Erlen und Birken. Es dauerte lange, ehe in dieser Gegend Kiefern und Fichten heimisch wurden.«
Fisch gab es umso mehr. Huretta berichtete, dass die Netze, die Pälsi in Antrea gefunden hatte, möglicherwei se von seinem Schwiegersohn stammten. Dieser Schwie gersohn hatte übrigens auf einen Schlag alle sechs Töchter Hurettas geheiratet und sie sogar recht gut ernährt, bis zu dem Tag, da er beim Fischfang ertrank.
»Dabei gingen gute Fanggeräte verloren: ein dreißig Meter langes Netz aus Weidenbast, ein verdammt wert volles Ding, dazu gute Borkenschwimmer, ferner eine Axt aus Elchgeweih, mehrere aus Knochen gefertigte Meißel und eine vortreffliche Ahle. Das alles war futsch, auch ein gutes Lederboot, und anschließend ertrank der Schwiegersohn selbst. Ursache für das Unglück war, dass er im Boot aufstand, wer weiß, warum, dabei kipp te das Ding um, und weil er nicht schwimmen konnte, war es aus mit ihm. Ich, damals selbst bereits tot, sah alles mit an. Der Schwiegersohn muss ziemlich dumm gewesen sein, denn er lebte hier im Jenseits nur ein paar Jahre. Und mich ärgert immer noch, dass die guten Fanggeräte im Meer versanken.«
An dieser Stelle schaltete sich Pälsi eifrig ins Ge spräch ein: »Gerade diese von Huretta erwähnten Ge genstände waren es, die ich vor dem Ersten Weltkrieg in Antrea fand. Oder vielmehr fand ich sie nicht selbst, sondern ich leitete die Ausgrabungen.«
Jetzt war Huretta in Fahrt gekommen. Er fuhr mit seiner Schilderung der steinzeitlichen Lebensbedingun gen fort: »Die Wohnverhältnisse
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