Im Keller
Polizei wohl auf die Idee kommen würde, in meinem Haus herumzuschnüffeln.
„Komm, lass uns die Leiche wegbringen“ , drängte ich. Ich war das! Ich sagte das! Ich, Theo, die ich meinen eigenen Sohn auf dem Gewissen hatte!
Wir trugen und zerrten und zogen Clemens´ kalten Körper mit vielen Pausen zur Tiefkühltr uhe im Nebenraum. Als ich ihn anfasste, stolperte kurz mein Herz, aber der Alkohol oder mein unter Schock stehender Verstand gaukelten mir vor, das alles sei ja sowieso nicht real, sondern nur ein Traum.
Das Wenige, das ich in der Kühltruhe lagerte, war schnell ausgeräumt, dann hievten und bugsierten wir Clemens hinein und bedeckten ihn, so gut es ging, mit den tiefgekühlten L ebensmitteln. Simone empfahl sogar, noch mehr Tiefgekühltes zu kaufen, um die Leiche besser darunter verstecken zu können.
Ja, und dann, Theo, begannen die wohl schlimmsten Wochen meines Lebens. Ich quälte mich mit Vorwürfen: warum hatte ich diesen Wahnsinn nicht früher beendet, warum hatte ich Clemens nicht angezeigt, warum hatte ich mich überhaupt zu dieser Tat überreden lassen?!
Immer, wenn der Schmerz zu groß wurde, griff ich zur Flasche. Und ich glaube, dass es z umindest Uschi nicht anders erging, auch wenn sie es nie zugab. Wie es allerdings in Simone aussah, dazu kann ich nichts sagen. Ich weiß einfach nicht, ob das, was sie nach außen zeigte (ihre Betroffenheit, die Ansätze von Schuldgefühlen), wirklich echt war.
Aber ich hatte ja weiß Gott auch andere Dinge im Kopf. Zum Beispiel wurde ich nachts i mmer wieder wach, weil ich dachte, ich hätte Geräusche aus dem Keller gehört. Jedes Mal eilte ich hinunter mit der irrwitzigen Idee im Kopf, Clemens lebe vielleicht noch und versuche, aus der Kühltruhe herauszukommen.
Aber wenn ich sie öffnete, lag alles noch so da wie an diesem schrecklichen Tag Anfang N ovember. Nein, einmal war ich sicher, dass ein tiefgefrorener Apfelstrudel nicht mehr genauso dalag wie beim letzten Mal, und ich wühlte mich wie eine Besessene zu Clemens durch, aber der hatte sich garantiert nicht bewegt.
Er war mit einer hauchdünnen Frostschicht bedeckt, und als ich ihn so sah, packte mich wi eder die Verzweiflung, und ich fiel vor der Kühltruhe auf die Knie und rief immer wieder: Vergib mir, was ich dir angetan habe, bitte, vergib mir!
Das Weihnachtsfest kam und ging, und nie hatte es weniger Bedeutung für mich.
Ich habe einen regelrechten Widerwillen dagegen entwickelt, mit Simone oder Uschi zu reden. Seit gut zwei Wochen habe ich schon keinen Kontakt mehr zu ihnen. Sobald ich nur an sie denke, fühle ich mich wie eine Mordkomplizin. Aber ich hatte ihm doch helfen wollen! Ja, ich hätte ihn befreit, wenn der Unfall nicht dazwischen gekommen wäre!
Andererseits denke ich manchmal, dass dieser Unfall vielleicht gar kein Zufall war, vielleicht wollte Gott gar nicht, dass ich Clemens rette ... und dann wäre doch alles richtig so, wie es ist.
Theo, es ist etwas Seltsames geschehen.
Gestern am späten Abend, als ich nicht schlafen konnte, habe ich mir einen Film angeschaut. Dieser Film tauchte ganz am Anfang ein in eine fröhliche, sommerliche Welt mit saftig grünen Wiesen, majestätischen Laubbäumen, mit nie gesehenen exotischen Pflanzen, einem versteckten Teich, einer Holzbank, von der aus man eine weite Aussicht auf eine traumhafte Landschaft in der Ferne hatte.
Dann zog sich die Kamera immer weiter zurück, bis der Zuschauer verstand, dass er aus e inem gemalten Bild zurückkehrte, das die Hauptperson des Films auf die Leinwand gezaubert hatte. Eine Frau in den Dreißigern, die vor einer Staffelei saß und eben ihr Werk mit einem letzten Pinselstrich beendete.
Die Frau lebte in einem wunderschönen, alten Haus auf dem Land, hatte einen kleinen Sohn und einen Ehemann, der Hochschulprofessor war und Alkoh oliker. Und ihr das Leben zur Hölle machte.
Eines Tages kommt die Frau vom Einkaufen nach Hause, und ihr Sohn liegt, vom eigenen Vater totgeschlagen, blutüberströmt in der Küche. Sie wird fast wahnsinnig vor Schmerz und schluckt eine Überdosis Tabletten. Sie wird gerettet, kommt in stationäre Therapie und malt wie besessen.
Kaum wieder zu Hause malt sie weiter. Dann holt sie das Bild vom Anfang des Films hervor und zeichnet ganz winzig ihren Sohn in das Bild, wie er in Ufernähe mit den Füßen im Wasser steht, in einer Hand seine Schuhe, mit der anderen winkt er ihr zu.
Ihr Mann, der Hochschulprofessor, im Gefängnis, der kleine Sohn tot, die
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