Im Kerker der schönen Justine
es gehört. Er drehte sich mit einer langsamen Bewegung um.
Die Tür schwang auf.
Jemand betrat den Kerker, den Lilian Smith nicht sah, weil ihre Lage nicht entsprechend war. Sie hätte den Kopf anheben müssen. Dazu war sie viel zu schwach, und sie brauchte es auch nicht, weil die Person, die den Raum betreten hatte, mit gemächlichen Schritten näher kam. Sie flüsterte dem Arzt etwas zu, der leise lachte und dann davon sprach, dass es noch etwas dauern würde.
»Gut, wir haben Zeit.«
»Steht der Wagen breit?«, fragte Bonham.
»Wie immer.«
»Schön, dass man sich auf dich verlassen kann.«
Eine Antwort gab die Frau nicht mehr, weil sie ihr Ziel jetzt erreicht hatte. Neben dem Seziertisch blieb sie stehen und blickte nach unten in das Gesicht der Liegenden.
Auch Lilian Smith hielt die Augen offen. Sie schaute hoch, aber das normale Sehen war bereits durch die Schwäche reduziert worden. Die Umrisse zerflossen und fügten sich auch nicht mehr zusammen. Aber es gab trotzdem einen lichten Augenblick, in dem es ihr gelang, das Gesicht zu erkennen, um festzustellen, dass sie es kannte.
Selten hatte sie eine Frau mit derartig blonden Haaren gesehen. Da gab es nur eine in ihrem Bekanntenkreis, und die arbeitete ebenfalls im Krankenhaus.
Es war die Notärztin Justine Varela!
***
Nachdem Lilian Smith die Frau erkannt hatte, ging ein Ruck durch ihren Körper, als wäre dies der Beginn eines Aufbäumens gewesen, was sie allerdings nicht mehr schaffte. Es war nur verrückt, dass ihr Herz plötzlich so rasend schnell schlug. Und sie verglich es mit einem letzten Aufbäumen vor dem Eintritt in den Tod.
Noch starb sie nicht!
Sie schaute hoch.
Lilian sah das Gesicht, das sich tiefer zu ihr herabbeugte und hörte die geflüsterte Erklärung, von der sie schon nicht mehr alles mitbekam.
»Ich bin es. Ich bin die Partnerin. Pete und ich bilden ein perfektes Team, und wir beide haben es geschafft, völlig neue Wege zu gehen. Es ist wunderbar, das musst du mir glauben. Ich hätte nie gedacht, dass mein Leben so interessant verlaufen würde. Immer habe ich von der Macht geträumt. Jetzt halte ich sie in den Händen, und ich denke nicht, dass ich sie noch mal abgeben werde.«
Lilian hatte sich einiges zusammenreimen müssen, aber es passte, und so konnte sie eine wichtige Frage stellen.
»Warum all das Blut?«, hauchte sie. »Was wollt ihr damit?«
»Wir sammeln es.«
»Ihr wollt es verkaufen?«
»Nein, wir verschenken es«, erklärte die Varela.
»Und... und wer bekommt es?«
»Jemand, der verdammt mächtig ist, das kann ich dir versprechen. Einer, der wie ein Mensch aussieht, aber keiner ist. Auf dieser Welt existieren Dinge, von denen du nichts weißt, aber du gehörst dazu, wie auch die anderen Toten...«
Lilian spürte, dass sich der Tod näherte. Die Schwäche nahm noch mehr zu. Nichts an ihrem Körper ließ sich noch bewegen. Sie hob weder die Arme noch die Beine an.
Sie glitt hinein, in die andere Welt, aus der es keine Rückkehr mehr gab. Noch einmal raffte sie ihren Lebenswillen zusammen. Weit riss sie die Augen auf.
Wie von einem Lichtglanz war das Gesicht der Notärztin umgeben. Doch ihr Grinsen war das einer Teufelin, und als sie ihren Mund öffnete, sah Lilian etwas, das sie nicht begriff.
Der Schmerz kam plötzlich. Er drückte ihr Herz zusammen und sorgte für einen leisen Schrei, der langsamer erstarb, als er aufgeklungen war. Ein leichter Atemzug zischte aus dem spaltbreit geöffneten Mund, danach war es vorbei...
***
Justine Varela blieb noch etwa eine viertel Minute neben dem Seziertisch stehen. Sie schaute in das Gesicht der Toten, in dem noch der Schreck der letzten Sekunden zu lesen stand. Sie schloss der Frau die Augen und richtete sich dann auf.
Dr. Bonham hatte die Bewegung gesehen. In den letzten Minuten hatte er sich an der Tür aufgehalten. Er stand dort mit verschränkten Armen und ließ sie sinken, als sich seine Partnerin zu ihm hindrehte. »Ist sie tot?«
»Ja, sie hat es geschafft.«
»Ausgezeichnet. Und wir haben wieder Blut für den Meister.«
»So musste es sein.«
Der Arzt schlenderte näher und blickte dabei auf seine Uhr. »Was meinst du? Sollen wir sie heute noch wegschaffen?«
»Dafür wäre ich. Es ist Nacht, und wir haben Zeit genug. Wir sollten sie nur nicht zu weit transportieren.«
»Stimmt. Ich weiß auch schon einen Platz. Das kleine Sumpfgelände nicht weit vom Golfplatz entfernt.«
»Wie du meinst.«
Beide brauchten nicht zu besprechen, was zu tun
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