Im Kinderzimmer
zuleide tun«, bemerkte sie in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete. Das Thema war gestorben. »Darf ich dir einen Tee anbieten?« Die Aufforderung klang halbherzig.
»Vielen Dank, nein. Ich muß weiter. Gehst du morgen hin?«
»Ja, natürlich. Es sei denn, sie rufen an.« Sie ließ Mary ihr ängstliches Gesicht nicht sehen. Ihr graute vor dem Straßenverkehr, der Bahn, dem Gewühl und nicht zuletzt auch vor dem möglicherweise unfreundlichen Empfang, wenn sie erst einmal da wäre. Ihre Entschlossenheit war ins Wanken geraten, doch Mary entgingen die feinen Untertöne. »Ja, natürlich. Oder übermorgen. Ich muß mich 291
schließlich um dieses kleine Katzenwesen kümmern, nicht? Willst du sie nicht vielleicht besuchen?«
Ja, warum eigentlich nicht? Mary wurde auf dem Heimweg vom Regen überrascht. Sie schritt gleichmäßig und energisch aus. Katherine hatte einmal bemerkt, daß Mary immer mit exakt abgezirkelten, gleich langen Schritten gehe, als gelte es, die Fugen der Gehwegplat-ten zu meiden – oder vielleicht Verwicklungen, wie sie Aberglaube, die Vergangenheit und Emotionen gleich welcher Farbe nach sich ziehen konnten. Ihr Schritt war gemessen und unruhig zugleich. War es möglich, daß sie einer Fehleinschätzung erlag? Aber Mary wußte doch, daß sie sich nie irrte, nie. Und ihre Gedanken zum Thema Schwester und deren Familie waren nach wie vor bestimmt vom Zorn, der das Denken des kühlen Kopfs lodernd umzüngelte. Die alberne Sophie hatte also Katherine herbeigewünscht? Der gute David vergötterte Katherine geradezu, wie das auch Claud getan hatte und noch tat. So, so, David hatte also eine dunkle Vergangenheit?
Dann hatten sich doch die Richtigen gefunden, oder nicht? Mary hielt an einem Eckladen an, um sich mit tröstlichen Kohlehydraten zum Tee einzudecken – Sandkuchen, Kekse –, billiger Trost für den sich seinem Ende entgegenschleppenden Nachmittag. Grübeln und Buttergebäck und Süßigkeiten, das machte den Kopf frei und nährte das Schuldgefühl. Es gab ein nettes Café für einen Sonntagnachmit-tag; »am gemütlichsten war es immer noch daheim«. Sie ging sogar so weit, zusätzlich zum Naschwerk drei halbtote Blumensträuße zu kaufen, von der Art, wie sie für eben einen solchen Sabbat zurückbe-halten wurden für Leute mit mehr Geld als Verstand. Egal, immer noch besser als die kahlen weißen Wände. Das Weiß erinnerte allzu stark an Pflichten und an alle diese Institutionen, die gleichbedeutend gewesen waren mit Sicherheit; sie wollte den Anblick ausradieren.
Katherine im Krankenhaus vor weißen Wänden. Wieder ein Kind unterwegs, so, so. Drei für dich und nicht eines für mich. Soll Sophie dir beistehen, ich werd’s nicht tun.
Erst viel später, nach dem merkwürdigen Telefonat, fiel ihr die perfekte Lösung ein. Es hatte ja keinen Zweck, den Kopf in den Sand zu stecken und sich vorzumachen, daß sie sich nicht sorgte. Die Sorge um Katherine war zu tief verwurzelt, und sich vorzubeten, daß es 292
doch nicht ihr Bier war, wenn die alberne Gans ihr Leben wieder verpfuschte und ihre Schwiegermutter nicht mehr anrief, büßte mit jeder Wiederholung an beschwörender Kraft ein. Es mußte doch einen Mittelweg geben, der ihr erlauben würde, ihrer Pflicht nachzukommen und trotzdem jeden Kontakt mit einer Schwester zu meiden, der gegenüberzutreten sie sich einfach nicht überwinden konnte.
Mehrere sogar. Aber der Reihe nach. So rief sie Susan Pearson Thorpe an.
Marys kleines schwarzes Adreßbuch war, auch wenn seine abge-griffenen Seiten alle möglichen Nummern von Freunden von Katherine wie auch jede erdenkliche Art berufsrelevanter Kontaktadressen auflisteten – Wohlfahrtsverbände, Klempner, in London-Mitte prak-tizierende Ärzte –, doch nicht so umfassend, daß es die Telefon-nummern der Nachbarn ihrer Schwester enthalten hätte. Der Name Pearson Thorpe rief dunkle Erinnerungen an eine Person beachtli-chen Körperumfangs hervor, von Katherine erwähnt als Nachbarin, bei der die Kinder täglich abgeliefert wurden, und so arg viele Pearson Thorpes konnte es im Telefonbuch doch nicht geben. Mary legte sich zurecht, was sie sagen könnte: »Verzeihen Sie die Störung, noch dazu an einem Sonntagabend, aber nebenan bei meiner Schwester herrscht Grabesstille; ich erreiche niemanden. Wissen Sie zufällig, ob die Allendales verreist sein könnten?« Aber nein, »Grabesstille«, das ging nicht. Die schrecklichen Assoziationen, die das Wort hervorrief, tat sie als Unsinn ab. Wenn
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