Im Kinderzimmer
und es gebar eine Idee, die einerseits zweckdienlich, andererseits ein übler Streich wäre. Sie dachte nämlich zunächst an Sophie und ihr grauenvolles Adoptivtier, dann an Katzen und Wohlfahrtsarbeiter. Ha! Ein gelungener Witz!
Wäre sie in einer ausgeglicheneren Stimmung gewesen, weniger durch Kränkung, Abweisung und Ärger getrieben, hätte Mary niemals das erwogen, was sie jetzt erwog. Nie hätte sie vorsätzlich jemandes Zeit vergeudet.
»Hören Sie, Mrs. Harrison, ich mache Ihnen einen Vorschlag. Sie sagen, Sie sind mehrmals nebenan gewesen. Und man erlaubt Ihnen nicht, das Kind mal auszuführen. Haben Sie schon einmal daran gedacht, die Behörden einzuschalten?«
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»Oh! Aber das kann ich doch nicht machen, nein, wirklich nicht!
Was würden die Leute sagen? Das kann ich unmöglich machen!«
»Aber ich kann es. Ist doch besser, als wenn eine von uns sich ein-mischt, oder? Zur Sicherheit. Dann wüßten wir endlich, ob wirklich alles in Ordnung ist. Ich kenne dafür genau den richtigen Mann.«
»Ach, ich weiß nicht, so arg kann es doch nicht sein…« Mrs. Harrison kriegte kalte Füße, drehte und wand sich vor Verlegenheit.
»Wahrscheinlich ist alles bestens. Ich habe ja Mrs. Pearson Thorpe gebeten, aber…«
»Ich verstehe vollkommen«, versicherte ihr Mary glatt, »und deshalb werden wir einfach diesen Mann schicken, finden Sie nicht?
Dann haben wir Gewißheit, und Sie brauchen sich keine Sorgen mehr zu machen.«
»In Ordnung«, stimmte Mrs. Harrison nach langer Bedenkzeit zu, während derer sie das Für und Wider sorgfältig abgewägt hatte. »Ja, das wird wohl das Beste sein. Ich danke Ihnen.«
»Morgen dann«, meinte Mary. »Heute ist ja Sonntag.«
»Ja, ist klar«, sagte Mrs. Harrison. »Ich tu’s ungern, aber jetzt kann ich wenigstens ruhig schlafen.«
»Ja, das können Sie. Dann gute Nacht«, verabschiedete sich Mary.
Für Mrs. Harrison die beruhigende Stimme einer »Amtsperson«.
Die beruhigende Stimme verleibte sich die Süßigkeiten ein, von neuem erstaunt, wie unfehlbar, wenn auch kurzfristig, das Allheilmittel Essen wirkte, und freute sich diebisch über ihren grandiosen Einfall.
Ein Hoch auf die Leutchen von »Kinder in Not«, genau die Richtigen für diesen Job, vor allem dieser unausstehliche John Mills. Welche Wonne, dem untadeligen Allendale-Haushalt diese Plage auf den Hals zu hetzen! Er würde sich auf zierliche Beistelltischchen lehnen und sie zu Kleinholz knicken, er würde das erhabene Ambiente stö-
ren, seine ungelenke, tolpatschige Anwesenheit würde Katherines ästhetisches Empfinden beleidigen, seine Hartnäckigkeit würde David rasend machen. Und sie, Mary, hätte ihre Schuldigkeit getan, gesetzt den Fall, daß wirklich irgend etwas nicht stimmte. Mills war goldrichtig; wenn irgend etwas faul war, würde er dahinterkommen.
Immerhin war sein Spürsinn berüchtigt, und seine Berichte waren hervorragend, absolut verläßlich. Eine ideale Mixtur für ganze Arbeit 296
– und eine gute Portion Rachsucht. Ja, morgen. Sonntag war Ruhe-tag. Und schließlich ließen die wirren, hysterischen Ausführungen dieser Weiber keinen Anlaß zu überstürztem Handeln erkennen.
Genau wie Mrs. Harrison konnte Mary ruhig schlafen.
Als John Mills begriff, daß der Montag angebrochen war, hatte er die Bedeutung des Wortes Schlaf fast vergessen. Am Samstagabend war er nach einem wenig aufregenden Arbeitstag nach Hause zurückgekehrt – in eine Wohnung bar jeden Katzenlebens. Er war kopflos hinausgerannt und hatte sich auf die Suche gemacht, hatte die Stra-
ßen abgeklappert, war hinauf und hinunter geirrt, hatte Passanten angehalten und Fragen gestellt. Viele seiner Opfer, auf dem Weg ins Feierabend- und Wochenendvergnügen, nahmen den Aufschub übel, beugten sich jedoch der Eindringlichkeit dieses Mannes, der es hervorragend verstand, einem »Verzeihen Sie« die Überzeugungskraft eines Kinnhakens zu verleihen. »Verzeihen Sie, aber haben Sie vielleicht eine herumstreunende Katze gesehen? Oder auch zwei oder drei?« Dazu ein verzweifelt angespanntes Gesicht und ein nervöses Zucken unter dem Auge. Die Antworten fielen sehr unterschiedlich aus, von »Ja, klar, Stücker siebzehn«, über »Nicht, daß ich wüßte«,
»Bitte?« bis hin zu »Mann, verpiß dich, du Wichser!«. Man hätte vielleicht weniger gereizt reagiert, wenn der Kerl bei einer Vernei-nung nicht noch einmal nachgehakt und gefragt hätte, ob man sich ganz sicher sei, wirklich ganz sicher, daß man keine
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