Im Kinderzimmer
Ereignis verpaßt hatte in seiner kleinen, überschaubaren Welt. Fragen ohne Zusammenhang.
»Ist der Bettler zurückgekommen?« verlangte er unvermittelt aus den Tiefen des Kopfkissens.
»Welcher Bettler? Eine Figur aus einem Buch?«
»Nein, du weißt schon, der schmutzige Mann, der hier war und nach oben gelaufen ist, als Harrison Kricket geschaut hat. Sammy hat gesagt, er wär noch mal dagewesen.« Sammy und Mark hatten sich flüsternd durch den Türspalt der Toilette unterhalten, ehe die Schwester verscheucht worden war. »…und die Polizei war da, sagt Sammy. Wenn du mich fragst, hat der Bettler Jeanetta mitgenommen.
Sammy glaubt das auch. Ist die Polizei deswegen hiergewesen? Da hab ich was verpaßt… autsch! Das tut weh. Jeanetta hätte sicher auch gerne den Gips gesehen…«
»Welcher Mann, mein Schatz?«
»Der eine da, du weißt schon. Das weißt du doch. Nur sollte ich dir nichts verraten, bevor Mrs. Harry es dir sagt. Sonst kommen sie uns 316
holen, andere Bettler. Sie entführen uns, hat sie gesagt.« Das mit schläfrigem, blutrünstigem Genuß.
»Natürlich würden sie das nicht tun. Du Dummerchen.«
»Aber Sammy hat gesagt, daß sie bestimmt Jeanetta mitgenommen haben. Jeanetta ist nicht mehr da. Sie war so dünn, Mama.«
»Jeanetta kommt doch wieder, Schätzchen. Sie ist bloß zu Besuch bei ihrer Oma. Ich denke, sie wird sehr bald wiederkommen. Und dann kann sie dir was auf den Gips schreiben.«
Wie kam er bloß auf diese krausen Ideen? Lag wohl an seinem be-nommenen Zustand, er war nicht ganz da. Ich hatte ihn wochenlang nicht mehr von den Nachbarn sprechen hören. Aber ich hatte ihn ja auch nicht sonderlich beachtet; selbst wenn sie das Thema bis zum Erbrechen erörtert hätten, ich hätte nichts davon mitgekriegt. Dort in der stillen Geborgenheit seines frisch aufgeräumten Zimmers verspürte ich einen Anflug dieses Fröstelns, das ich vorher auf der Stra-
ße gespürt hatte. Marks wunderschöne dunkle Augen fielen langsam zu, das Gesichtchen war frisch und rosig. In der Ecke schnarchte Patsy – ein weiteres Zugeständnis dem Kranken gegenüber.
»Nein, Netta kommt nicht mehr wieder. Und wenn, würde sie nichts auf den Gips schreiben, weil sie nämlich nicht schreiben kann…«
»Schlaf jetzt. Gute Nacht. Träum schön.«
»Es war wirklich ein riesengroßes Stück Eisen, Mama…«
Ich schlich auf Zehenspitzen hinunter, obwohl es dafür eigentlich keinen Grund gab, schwach vor Erleichterung und den Kopf voll wirrer Gedanken. Der Bettler beschäftigte mich noch, aber es gab einfach wichtigere Dinge im Augenblick. Außerdem war der Bettler ein »Geheimnis«, und meine neue Demut verlangte, daß ich ihnen ihre kleinen Geheimnisse ließ, so viele sie wollten, Mrs. Harrison hin oder her. Eifersucht stand mir nicht zu. Das Haus war warm, die friedliche Behaglichkeit zu kostbar, um sie aufs Spiel zu setzen.
Morgen wäre Zeit genug. Morgen wäre Zeit genug für alles, bis auf das, was jetzt bevorstand.
Das Gesicht, das mein Mann mir zuwandte, war von unglaublicher Erschöpfung gezeichnet, und die Ähnlichkeit von Vater und Sohn war unübersehbar. Dort in diesem Sessel hatte Sebastian so lange 317
nicht mehr gesessen, daß sein Anblick, leicht zerzaust, mit offenem Hemdkragen, von Kopf bis zu den Schuhen zerknittert, mich unwillkürlich an den Mann auf der Parkbank erinnerte. Einsam. Genauso wie ich vermutlich, dachte ich, gestand es mir zum erstenmal ein. Ich war nicht verlegen, dazu war ich viel zu dankbar, ihn da zu haben, und wenn da eine andere Frau gewesen wäre, bei der er Geborgenheit fand (und ich wußte sehr wohl, daß es keine gab, denn er lügt nie), so war mir keine Empörung geblieben.
»Möchtest du etwas trinken?« Im Grunde mein eigenes Bedürfnis, denn er hätte sich ja längst bedienen können.
»Gern.«
Ich kramte den Whisky hervor, dieses ekelhafte Zeug, das ich verabscheue, war stolz, eine unangebrochene Flasche vorweisen zu können. Mir selbst schenkte ich einen sehr kleinen Gin ein und stellte das Glas knapp außer Reichweite. Auf diese Weise müßte ich mich jedesmal danach strecken. Ich kann mich nicht von heute auf morgen bessern; ich kann auch nicht so tun, kann in keiner Angelegenheit so tun. Unaufrichtigkeit ist im Augenblick – wie die Eifersucht – ein Luxus, den ich mir nicht leisten kann.
»Willst du morgen zur Arbeit?« Eine scheinbar beiläufige Frage voller unausgesprochener anderer Fragen.
»Nein. Ich denke, ich werde mir ein paar Tage
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