Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Im Kinderzimmer

Im Kinderzimmer

Titel: Im Kinderzimmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frances Fyfield
Vom Netzwerk:
mir, daß der Junge tot war!
    »Tot? Aber nein, ich will doch nicht hoffen, daß er tot ist.« Ein erschütternd höflich formulierter Gedanke, der da ans Licht brach wie die Lokomotive am Ende eines Tunnels: riesig und unaufhaltbar. Mir blieb die Luft weg, ich mußte mich setzen, kämpfte mit plötzlicher schwindelnder Übelkeit, konnte nicht sitzen bleiben, rannte wie ein aufgescheuchtes Huhn von einer Ecke des Zimmers in die andere.
    Dies war anders als das Zittern vom Alkohol, eine Erschütterung bis ins Mark, diese Schreckensvision, daß er vielleicht niemals wiederkäme, unaussprechliches Grauen, kein Abgrund so tief wie eine solch klaffende, endgültige Abwesenheit, ein Alp, den ich nicht einmal annähernd beschreiben könnte. Begriffe für Gefühle, die ich –
    zusammen mit einer ganzen Palette derselben – in den wenigen vergangenen Wochen neu lernen mußte, das alles reicht nicht aus, um meine Empfindungen zu beschreiben. Kein Mark mehr! Ihn niemals wiederzusehen, zu hören! Kein Kind mehr dort auf dem Stuhl, kein kleiner Mann, den ich ständig aus dem Augenwinkel wahrnehme?
    Kein Hintergrund mehr für meine Existenz? Aber du hast ihn doch kaum je gesehen, hielt ich mir ungläubig vor, du hast ihn ungnädig zur Welt gebracht und ins Bett gepackt! Aber ist es deswegen ausge-schlossen, daß eine distanzierte Mutter, wie du sie bist, vor Angst stirbt bei der Vorstellung eines solchen Verlustes? Sei es spät er-310
    kannte Liebe, sei es, was es sei, aber wie überhaupt irgendeine Frau, und sei sie ein Ungeheuer, einen solchen Verlust erleiden und überleben kann, ist mir unbegreiflich. Ich dachte an Fernsehmeldungen: Kinder, die bei Bränden umkamen, die entführt wurden, dachte an meine wegwerfenden Kommentare über fahrlässige Eltern und hätte weinen mögen.
    Um das zu verhindern, rief ich Mrs. Harrison zu mir, berichtete ihr stotternd und mich verhaspelnd von dem Unfall.
    »Scht, scht, ganz ruhig, ganz ruhig«, redete sie auf mich ein. »Wird alles halb so wild sein…« Sie war ruhiger als ich, brachte ihren Satz aber auch nicht ganz zu Ende und knetete ihre Finger, um sie ruhig zu halten.
    »Ich könnte schreien!« sagte ich ihr. »Ich könnte einfach schreien!
    Warum ruft Sebastian nicht an?«
    »Ja, ja, ich weiß«, murmelte sie. Dann kam ihr die rettende Idee.
    »Ach, ich weiß, warum er nicht anruft! Weil sie schon auf dem Heimweg sind!«
    Diese Vorstellung half. Ich weiß zwar nicht warum, aber der schlichte Gedanke, daß man nicht gleichzeitig telefonieren und Auto fahren kann, es sei denn, man hat eines dieser verdammten Geräte im Wagen, gab mir Halt.
    »Sie sind ja ganz bis Norfolk rauf gefahren«, fuhr Mrs. Harrison fort, »ich kann mich entsinnen, daß das eine lange Strecke ist, bis Norfolk. Ich war da mal in meiner Jugend.« Sie lachte verschämt bei der Erinnerung – an die lange Fahrt und wahrscheinlich noch anderes. »Doch, eine sehr lange Fahrt.« Dann legte sie sich selbst ge-schickterweise als Beruhigungsstrategie ein Aktionsprogramm zurecht, schob das Kinn vor und empfahl mir das gleiche, instinktiv das Richtige treffend.
    »Hören Sie, Mrs. Pearson, dann haben wir eine Menge zu tun. Da sie ja auf dem Weg zu uns sind…« – sie betonte es noch einmal, stellte es als gewiß hin –, »muß ich mich um die Zimmer kümmern.
    Harrison hat damit bis zum letzten Moment gewartet, verstehen Sie?
    Wir wollen doch alles blitzblank haben, wenn sie kommen.« Sie rümpfte mißbilligend die Nase und sah sich in meinem Arbeitszimmer um. »Marks Zimmer ist noch genauso, wie es war, da werd ich 311
    lieber mal aufräumen. Wo er doch nicht ganz auf der Höhe ist.«
    (Auch dies eine geschickte Verharmlosung der ernsten Lage.) »Sie könnten ja hier drinnen ein wenig aufräumen, wenn Sie wollen.«
    Dann kehrte sie zur alten Unterwürfigkeit zurück. »Ach, und wenn Sie so gut wären, Samantha zu übernehmen…? Dann habe ich den Rücken frei.« Ich akzeptierte fraglos, daß sie wesentlich effektiver arbeiten könnte und ich ihr deshalb vernünftigerweise freie Hand lassen sollte, willigte ein, folgte fraglos ihren Anweisungen.
    Beschäftigungstherapie. Bloß nicht schlappmachen. Das dürfen wir jetzt nicht. Viel zu tun. Schlau, die alte Harrison. Ließ mir als Gesellschafterin die kleine mollige Samantha, so erwachsen, so wenig nachtragend. Und wie komisch, daß ich hier nun putzte, ungeschickt aus Mangel an Übung, zusammen mit der ebenso unbeholfenen Samantha, die gemäß der Order sehr brav war

Weitere Kostenlose Bücher