Im Kinderzimmer
freinehmen und den Jungen bei Laune halten. Und du?«
»Nein.«
Ein Schluck Gin, das nächste erforderte Mut. Er hatte gerade den Mund aufgemacht, um etwas zu sagen. Ich unterbrach ihn schnell.
Ich durfte ihn nicht zuerst fragen lassen.
»Willst du dann nicht hierbleiben? Bitte.«
»Ja.«
Wir haben uns nicht berührt. Wer rennt schon quer durch den Raum in die Arme des Gatten, der einen verlassen hat, auch wenn man diejenige war, die ihn zuerst im Stich gelassen hat. Oder man tut es jedenfalls nicht, wenn man ich ist. Ich sah in ihm den Vater meiner Kinder, nicht einen neu angelachten, nicht vorbelasteten Liebhaber. Aber ich berührte ihn auf meinem Weg in die Küche kurz an der Schulter, mehr freundschaftlich, eine sehr flüchtige Geste, die er als 318
Versehen deuten konnte, angenommen, ihm lag überhaupt daran, sie wahrzunehmen, was ich jedoch vermutete. Sie hat mich viel gekostet, diese winzige Berührung. Aber ich habe zuerst die Hand ausgestreckt. Dann habe ich uns ein Abendessen gekocht, wie Ehefrauen das tun sollen, hin und wieder. Mrs. Harrison hätte allen Grund, stolz auf mich zu sein.
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»Mach uns nicht an, John. Wir haben alle zu tun, und du bist nicht der einzige, dem der Schädel brummt. Brauchst deine schlechte Laune nicht an uns ablassen, Scheißkerl.« Nicht unfreundlich gesagt.
»Was ist überhaupt mit dir los heute? Zu tief in die Flasche geguckt, oder was?«
»Nein… ich…« Irgendwie konnte er nie einen Satz zu Ende bringen, zwang sich, den stieren Blick vom leeren Fensterhimmel abzu-wenden und zu lächeln. Er kam gegen die Apathie immer schwerer an. »Nur… frage ich mich die ganze Zeit, was dieser verdammte Anruf sollte. Ich werde daraus nicht schlau. Warum ruft sie nicht wieder an?«
»Ach, dieses Weib! Irgend so ein hohes Tier. Die melden sich doch nie ein zweitesmal. Aber immerhin eine Verwandte, und sie meinte, es sei dringend. Hab gar nicht erst gefragt, wieso sie sich nicht selber drum kümmert. Du hast mir eingebleut, das sei unklug, man müsse die Leute erst einmal beim Wort nehmen und etwas unternehmen, anders gehe es nicht. Und hoffen, daß es ein Fehlalarm war. Nichts zu machen, du wirst hingehen müssen.«
Er scharrte unruhig mit den Füßen. »Zu wenig«, murmelte er, »zu wenig Anhaltspunkte…« Er suchte nach Worten. »Keine Schreie, keine Brüllerei, keine blauen Flecken. Nur Gerüchte. Eltern, die Verwandte abwimmeln. Wer weiß, vielleicht sind die ganzen Verwandten unausstehlich, ist doch oft genug so. Mutter neurotisch, auch nichts Neues. Zivilisationskrankheit unserer Tage. Hypertrophie der Geschlechtsteile und des Gewissens… von den Erwartungen ganz zu schweigen. Was ist daran neu?«
»Nichts. Wie alle Anrufe: Zögernde Einleitung, ›eigentlich alles in Ordnung, und wenn nicht, warum sollte ich das gerade Ihnen erzählen‹. Sie reden alle um den heißen Brei herum, weißt du doch. Keiner rückt direkt mit der Sprache heraus, Wink mit dem Zaunpfahl, verschämte Hilferufe – Geheimcode, den wir zu entschlüsseln verstehen, genau da liegt unsere Stärke. Also, was ist los?… Bloß, weil du keine dieser blöden Auszeichnungen gekriegt hast. Haben wir auch 320
nicht. Ich dachte, da stehst du drüber. Gut, dann muß ich jemand anders schicken.« John erwachte aus seiner Erstarrung, empört.
»Laß doch den Blödsinn! Ich geh ja schon. Hast du die Adresse gesehen?«
»Na und? Wie sieht’s aus: könntest du den Bericht bis morgen fertig haben?« Mit dieser letzten Bitte ging sie möglicherweise zu weit.
»Diese Tussi, verstehst du, die um Überprüfung gebeten hat. Denk an die Spenden.«
Er schlenderte also gegen Abend dieses Montags die fragliche Straße hinauf, seine Lieblingsstraße und doch auch wieder nicht. So spät, wie er glaubte, war es gar nicht, nur ein dunkler Tag unter re-genverhangenem, wolkenschwangerem Himmel, einem ungesund geblähten Himmel, der sich nicht erleichtern konnte, die Sonne tot.
John empfand nichts, nichts als dumpf pochenden Haß in den Schlä-
fen, als er den vollkommen intakten, gepflegten Gehweg hinaufging.
Die Bonbons rieben durch den dünnen Baumwollstoff der Hosentasche an seinem Schenkel, die rechte Hand fühlte sich leer an ohne die gewohnte Plastiktüte voller Kitekatdosen. In dieser Straße gab es nichts, das nicht in den Dienst verschwenderischsten Geschmacks gestellt war, nichts rein Funktionelles. Während er in westliche Richtung spazierte, die Arme nun wie ein patrouillierender Bobby auf dem
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