Im Kinderzimmer
Schwester rühmen, doch fehlte es keineswegs am gleichen Potential. Die Schmucklosigkeit von Marys schlanker, ebenmäßiger Gestalt war schließlich frei gewählt, und das Gesicht wäre ohne den hungrigen Ausdruck recht einnehmend zu nennen gewesen. Mary war stets pünktlich, überpünktlich meistens, und nur der leuchtende Blick der Schwester konnte ein unverzeihliches Loch von zwei Minuten im Zeitplan wettmachen. In der Regel kam auch Katherine eher zu früh als zu spät. »Das hat sie von mir gelernt«, hatte sie David einmal erklärt, der sehr viel auf Pünktlichkeit hielt.
Katherine ließ bedenklich nach in letzter Zeit. Vorbei die Zeiten, da sie gut eine Viertelstunde vorher da war und nichts dabei fand, auch im strömenden Regen einmal um den Block zu gehen und die Auslagen zu betrachten oder lieber in irgendeinem Hauseingang herumzustehen als jemand warten lassen. In diesen Dingen war Katherine zwar kein ganz hoffnungsloser Fall, doch einer wie Schwester Mary, der es um nichts Geringeres als die Erlösung ging, mußten die Aus-sichten düster erscheinen – jedenfalls wenn hemmungsloser Konsum einen geradewegs in die Hölle fahren ließ.
Die Treffen etwa einmal in der Woche hatte Mary angeregt, und sie nahm weder diese vielsagende Tatsache noch die Pflicht noch Katherines meist einsilbige Reaktionen übel. Schließlich mußte man bedenken, daß die kleine Schwester einige Jahre jünger war und daß sie von einem Pflegeheim ins nächste abgeschoben worden war, von der frühen Trennung der Schwestern ganz zu schweigen; heutzutage würden die Sozialarbeiter das nicht mehr tun. Mary hatte mehr Glück gehabt, war adoptiert worden von inzwischen günstigerweise ver-storbenen Eltern, die ihr eine ordentliche Ausbildung ermöglicht hatten. Katherine hatte es allerdings immer schon mehr mit Farben und Bildern gehabt. Kind geblieben, dachte Mary oft, nicht übers Teenie-Alter hinausgekommen, als sie noch Comic-Hefte las: Man gebe Katherine Comic-Hefte und einen Malkasten, und sie wäre 77
glücklich. Der Malkasten paßte gut ins Bild, wenn man sich’s überlegte – Mary überlegte es sich nicht ohne Bitterkeit, glich doch Katherines Leben ein wenig diesen Ölbildern zum Selbermachen: die mit den numerierten Feldern, die mit der entsprechend bezifferten Farbe auszumalen waren und siehe da: die vollendete Frau. Aufhö-
ren! Katherine war schließlich ihre Schwester, ihre einzige direkte Verwandte, die sie, auf ihre Weise, liebte, auch wenn sie nicht ohne Erleichterung die Verantwortung für sie abgetreten hatte. Denn selbst wenn sie stets relativ nachsichtig und liberal gewesen war, Katherine war doch verdammt, na ja, starrsinnig. Das war sie, auf charmante und unwiderstehliche Weise, immer noch.
»Sieh mal einer an, wen haben wir denn da? Kate kommt zu spät.«
Katherine strahlte, und Mary ließ sich erweichen, als sie zusah, wie ihre Schwester sich in einen Rohrstuhl plumpsen ließ, das kurze, schwarze Jäckchen abstreifte, das Mary am liebsten selbst gehabt hätte, und zur Speisekarte griff.
»Wollen wir Kuchen essen? Heute zahle ich, tu dir keinen Zwang an. Meine Güte, sieh dir bloß die Preise an!« Mary hörte das gern: das war ihre gute alte Kate.
»Nein, nein«, meinte sie begütigend, »wir teilen. Und wir nehmen nur ein paar Croissants. Jetzt erzähl mal, was gibt’s Neues.«
Als ob sie es nicht wüßte. Als ob nicht alles genauso wäre wie letzte Woche. Katherine würde gearbeitet haben in ihrem Schickimicki-Laden, würde brav ihren Fitneß-Kurs besucht haben, würde mit Freundinnen zum Essen gegangen sein und würde etwas Neues gekauft haben – das sah Mary doch an der Tragetasche auf dem Boden.
Das alles ließ sich in zwei Sätzen sagen. Woraufhin Mary ihre Woche etwas ausführlicher schildern würde, ihre Bemühungen ums Gemeinwohl. Die Sitzungen von Oxfam, Mencap, Ableger der größ-
ten Kinderschutzorganisation, die Erörterung der Spendenkampagne für Behindertentransporte bei Kaffee und Kuchen, die es mit denen hier nicht aufnehmen konnten, Telefonate, Schriftverkehr dreier verschiedener Stellen, gezielte Öffentlichkeitsarbeit, Prüfung von Berichten zum Zwecke der Verbesserung dieser und jener Einrichtun-gen, eine bescheidene Vergütung für eine Expertise. Marys voller Einsatz galt einer Wohlfahrtsleit- und Informationsstelle, sie war 78
Treuhänderin verschiedener Wohltätigkeitsfonds, hatte sich zur Spe-zialistin in Fragen der Zuständigkeitsbereiche zahlloser Institutionen und
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