Im Kinderzimmer
stillen, ob Durchdrehen dem ständigen Aufrechterhalten einer vernünftigen Fassade, dem sich Arrangieren mit dem unerträglichen Stand der Dinge, wie es Mrs.
Harrison vermutlich tat, nicht vorzuziehen wäre. John Mills, seines Zeichens Hippy, Dichter und Prediger der Revolution, klammerte sich immer noch an sein Evangelium wie ein Ertrinkender an das sinkende Schiff, das alle anderen längst verlassen hatten. Er war stehengeblieben, um sich mit Mrs. Harrison zu unterhalten, wie er eben aus Prinzip stehenblieb und sich mit jemandem unterhielt, der so zweifelsfrei dem Proletariat zuzurechnen war, selbst wenn ihr das Bewußtsein fehlte, diese Tatsache voller Zorn zu begreifen. Das fehlte den meisten. Die waren eben auch verrückt. Er blickte zum Fenster hoch, wo eine Katze thronte. Die da oben zahlten vermutlich einen Teil seines Gehalts, indem sie ihr überflüssiges Kleingeld als steuerbegünstigte Spende in irgendeinen Wohlfahrtstopf fließen lie-
ßen. Aber das machte sie ihm nicht sympathischer. Wunderschöne Häuser, bildschön. Es zog ihn unwiderstehlich in diese Straße, die er am liebsten flachgebombt hätte und darin begraben, die Wurzel allen Übels, Übel, das ihn wie Akne juckte.
»Herrliches Wetter«, sagte Mrs. Harrison.
Heute war es besonders schlimm, er kochte vor Abscheu. Gestern morgen, an seinem ersten Arbeitstag, war er in einem stinkenden Loch gewesen, nur wenige Kilometer von hier, aber Lichtjahre entfernt. Der Kontrast war alles andere als Balsam auf ein geplagtes soziales Gewissen und zerrüttete Nerven. Er sagte jedoch nichts, und Mrs. Harrison sah darin lediglich eine weitere Bestätigung für seine Kauzigkeit. Sie bemerkte wohl seine Geistesabwesenheit, spürte seinen Wunsch, zu gehen und sich dennoch nicht bewegen zu müssen. Er sah noch blasser aus als sonst, redete immer noch unter Ein-73
satz des ganzen hin und her schaukelnden Körpers, als ob er nicht stillstehen konnte, erzählte nun, daß in seinem Büro die Decke eingestürzt war. Das waren greifbare Probleme, die sie mit »Nein! Ach!
Tatsächlich?« bedachte. Hinter ihr kam der Hund Patsy die Stufen hinuntergetappt, drehte sich ein paarmal im Kreis, um die beste, son-nengewärmte Stelle auf den Steinen zu finden und ließ seinen schweren Labradorrumpf grunzend sinken. Dahinter erschien, ausnahmsweise still, Jeanetta.
»Die Kleine sieht genauso aus wie der Hund«, stellte Mills fest. Er sagte es laut und zeigte mit dem Finger. Mrs. Harrison lachte. Er hatte nicht Unrecht: das gleiche Goldhaar, die gleiche Leibesfülle, die gleichen Augen, nur rosig umrahmt. Meine Güte, Mr. Mills war aber der reinste Zappelphilipp heute morgen; im Vergleich zur Se-niorenbehäbigkeit des Hundes fiel es ihr jetzt auf. Plötzlich wurde ihr langweilig, der Spaß drinnen konnte beginnen, die Zigarette war aufgeraucht. Sie schnippte die Kippe auf den Bürgersteig, als kleinen boshaften Beitrag zur Reinhaltung der Straßen.
»Na, dann will ich Sie nicht länger aufhalten, Mr. Mills. Nett, Sie mal wieder gesehen zu haben. Oder wollen Sie doch noch auf eine Tasse Tee…?« Sie hatte ihm gar keinen angeboten, er hatte als fünf-minütige Zerstreuung seine Schuldigkeit getan. Er entwirrte seine Füße, beugte sich zum Hund hinunter, um ihn zu streicheln und ging seiner Wege. Seinem Gang fehlte auf eigenartige Weise jegliche Würde, er reizte geradezu zum Lachen.
»Komischer Kauz, was?« fragte Mrs. Harrison Patsy. »Immer so verdammt deprimiert, immer nervös. Was meinst du, meine Süße?«
an Jeanetta gerichtet, womit sie den endlosen Strom belanglosen Geredes in Gang setzte, der dem Kind so gefiel. »Weiß nich«, sagte Jeanetta und streichelte Patsy mit Hingabe, Brust und Bauch auf die runden Knie gedrückt, so daß die glatte Haut ihres Rückens freilag.
»Und wann kauft dir die Mama wohl neue Anziehsachen?« fragte Mrs. Harrison und zerrte am T-Shirt. Jeanetta kicherte. Es kitzelte.
»Schlafanzug?« sagte sie.
»Ach, ich weiß nicht recht«, seufzte Mrs. Harrison, »ich weiß wirklich nicht. Was wollen wir denn heute machen, mein Liebchen?«
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Jeanetta strahlte und klatschte in die Hände. »Backebacke-Kuchen?« schlug sie vor.
»Du meinst: Backe, backe Kuchen, der Bäcker hat gerufen…« Das Kind stimmte mit ein und der Klang seines dünnen hohen Stimm-chens folgte John auf seinem Weg zur Arbeit.
Immer wenn sie spät dran war, war sich Katherine dessen nur zu bewußt, und die Eile erschöpfte sie. Sie traf außer Atem ein, mit einem
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