Im Kinderzimmer
Straße. Sie hatte jüngst beschlossen, sich öfter als bisher mal etwas zu gönnen, also nicht nur hin und wieder in teure Cafés zu gehen, sondern auch mal mittags in einem mondäneren Lokal eine bescheidene Mahlzeit zu sich zu nehmen. In ihren Augen waren diese Extravaganzen zulässig, wenn sie Hin- und Rückweg auf 163
dem Fahrrad zurücklegte, ungeachtet dessen, daß eine genaue Prü-
fung ihres Kontostands einen kleinen Freudenschock, aber auch diffuse Schamgefühle hervorgerufen hatte. Tatsächlich nämlich stand sie sehr viel besser da, als sie wahrhaben wollte. Diese Erkenntnis traf mit dem Bedürfnis zusammen, sich ein bißchen zu verwöhnen.
Schließlich hatte sie das Plus, das sich angesammelt hatte, weil ihre Ausgaben in den letzten Jahren nicht gestiegen waren, wohl aber ihr Gehalt, selbst erarbeitet. Eine Tatsache, die bei einem kleinen, privaten Festschmaus sehr angenehm zu überdenken war. Katherine und ich, sinnierte sie, wie haben wir darunter gelitten, arm zu sein! Aber deshalb werden wie die kleine Schwester? Niemals! Nicht so extrem, jedenfalls, wenn es sich verhindern ließe. Bloß nicht süchtig werden nach dem genauen Gegenteil. Trotzdem erregte sie der Gedanke an das Geld, weckte neues Verständnis für das Gefühl der Macht, das es einem verlieh. Um so mehr, als sie derzeit dringend Ablenkung brauchte.
Denn es hatte sich eine ungewohnte Panik Marys bemächtigt, und sie legte langsam ihre sämtlichen Bemühungen, sich nützlich zu machen, lahm. Die Diagnose der Kollegen, die sie als eine kannten, die stets ängstlich darauf bedacht war, alles unter Kontrolle zu halten, lautete: akute Vereinsamung, eine Isolation, die sich stetig zugespitzt hatte seit Katherines Auszug. Hat doch sonst niemand, die Arme, wahrscheinlich wünscht sie sich sogar ein Kind, und das in ihrem Alter! Derartig zutreffende Vermutungen hätte Mary rundweg geleugnet und als Schwachsinn verlacht, hätte trocken gekontert, das einzige, was ihr fehle, sei gutes Essen und frische Luft. Und vielleicht, nur vielleicht, den Trost eines Liebhabers. Claud war ihr viel gründlicher unter die Haut gegangen, als sie sich jemals eingestanden hatte, und Claud war verschwunden. Sie ließ sich nicht anmerken, wie sehr ihr das zusetzte, und litt doch, litt fürchterlich, taumelte wie eine Schlafwandlerin, benommen vor Schmerz. Heute war sie in die Bond Street aufgebrochen, zu ihrer täglichen Kur. Bond Street hatte unfehlbar eine heilsame Wirkung, einfach aufgrund ihres atemberau-benden Schicks, der Mary in Rage brachte – und, zugegebenerma-
ßen, Neid weckte.
164
Modus Shoes, Fenwicks Designer Range, die Juweliere der New Bond Street, Gemäldegalerien, deren unauffällig präsentierte alte Meister nicht ausgezeichnet waren. Alle paar Schritte blieb sie vor einer Auslage stehen. Nicht, daß sie genau hingeschaut hätte, nein, sie ließ nur den ungeheuerlichen Überfluß, die Verschwendungssucht auf sich wirken, betrachtete sie nicht zuletzt mit Robin-Hood-Blick, überlegte, ob es sich lohnen würde, in der Bond Street für karitative Zwecke »betteln« zu gehen. Ob diese soignierten Geschäftsleute zu überreden wären, ihre Kunden zu Spenden für einen guten Zweck anzuhalten? Ach was, viel zu indiskret. Aber wie hübsch doch alles war: die exklusiven kleinen Auslagen mit ihrer exquisiten Dekoration – wie perfekt arrangierte Stilleben. Hierhin kam Katherine oft an ihren freien Nachmittagen. Neid auf Katherines gesichertes Dasein versetzte ihr einen Stich, Kummer gesellte sich dazu, als ihr klar wurde, daß ihre Schwester eine halbe Ewigkeit nicht mehr angerufen hatte, so daß Mary auf Neuigkeiten aus zweiter Hand, von Sophie nämlich, angewiesen war. Doch Mary verstand, weshalb es Katherine, diese Traumtänzerin, dieses Kind, hierherzog. Blinkendes Silber, matt schimmerndes Gold, die Seiden und die Bilder – als sähe man in die Sterne.
Mary stand gerade vor einem Schaufenster, hingerissen von wun-derbaren persischen Teppichen, als sie ihn auf der gegenüberliegenden Straßenseite erblickte. Der dunkle Hintergrund der Auslage machte das Glas zum Spiegel, in dem sein weißblonder Kopf auftauchte, als er auf dem Gehweg gegenüber vorbeischlenderte und selbst vor einer ähnlichen Auslage stehenblieb, kurzzeitig verdeckt von einem durch die schmale Straße gleitenden Wagen, dann in seiner ganzen Pracht wieder zum Vorschein kommend: Claud, der Ge-legenheitsliebhaber der Samstagnachmittage oder auch der frühen Abende während der
Weitere Kostenlose Bücher