Im Koenigreich der Traeume
Unheil anrichtete.
Nie zuvor hatte Jenny mit der Nadel in menschliche Haut gestochen, und als sie sich zwang, die Spitze in das angeschwollene Fleisch zu bohren, konnte sie ein angewidertes Ächzen nicht unterdrücken. Royce beobachtete sie aus den Augenwinkeln und gab sich alle Mühe, sich seine Angst, sie könnte in Ohnmacht fallen, nicht anmerken zu lassen.
»Für eine heimtückische Attentäterin habt Ihr einen erstaunlich schwachen Magen«, bemerkte er, um seinen Geist von den Schmerzen und ihren von ihrer sie so entnervenden Pflicht abzulenken.
Jenny biß sich auf die Lippe und stach erneut zu. Ihr Gesicht war aschfahl, und Royce unternahm noch einen Versuch, sie durch ein Gespräch auf andere Gedanken zu bringen. »Was hat Euch nur auf die Idee gebracht, Ihr könntet dazu berufen sein, eine Nonne zu werden?«
»Ich ... ich dachte das nie«, keuchte sie.
»Was, zum Teufel, hattet Ihr dann im Kloster von Belkirk zu suchen?«
»Mein Vater hat mich hingeschickt«, sagte sie und unterdrückte die aufkommende Übelkeit.
»Er war also der Meinung, Ihr wäret für das Leben einer Nonne geschaffen?« fragte Royce ungläubig und schielte zur Seite, um sie anzusehen. »Er muß eine ganz andere Seite Eures Charakters kennen als die, die Ihr mir bis jetzt gezeigt habt.«
Das hätte sie beinahe zum Lachen gebracht. Royce sah, daß die Farbe in ihre Wangen zurückkehrte.
»Eigentlich«, gab sie mit wundervoll melodiöser Stimme zu, »könnte man sagen, daß er mich hingeschickt hat, weil er dieselbe Seite meines Charakters kennt wie Ihr.«
»Tatsächlich?« erkundigte er sich leutselig. »Was für einen Grund hattet Ihr, ihn zu töten?«
Er klang so harmlos neugierig, daß sich Jenny ein Lächeln nicht verkneifen konnte. Sie hatte außerdem seit dem Nachmittag nichts gegessen, und der schwere Wein tat seine Wirkung und erwärmte sie vom Kopf bis zu den Zehenspitzen.
»Also?« drängte Royce, während er die kleinen Grübchen in ihren Mundwinkeln betrachtete.
»Ich habe nicht versucht, meinen Vater zu töten«, erklärte sie entschieden und stach noch einmal zu.
»Was habt Ihr dann verbrochen, daß er Euch in ein Kloster verbannte?«
»Unter anderem habe ich mich geweigert, jemanden zu heiraten - in gewisser Weise.«
»Wirklich?« hakte Royce aufrichtig überrascht nach, als er sich daran erinnerte, was er an Heinrichs Hof über Merricks älteste Tochter gehört hatte. Man munkelte, daß Merricks Älteste eine unscheinbare, zimperliche, eiskalte Frau sei, die zwangsläufig als alte Jungfer enden mußte. Er zermarterte sich das Gehirn und versuchte sich ins Gedächtnis zu rufen, wer sie mit diesen Eigenschaften beschrieben hatte. Edward Balder, entsann er sich - der Earl of Lochlordon, ein Gesandter vom Hof König Jakobs, hatte das behauptet. Aber auch alle anderen, die ihren Namen zufällig erwähnten, hatten ins selbe Horn gestoßen. Eine unscheinbare, zimperliche, eiskalte Jungfer , hieß es allerorten, aber es gab noch mehr Gerüchte über sie, an die er sich momentan nicht erinnerte.
»Wie alt seid Ihr?« fragte er unvermittelt.
Die Frage erschreckte sie und schien sie in Verlegenheit zu bringen. »Siebzehn«, gestand sie zögerlich, »und zwei Wochen.«
»So alt schon?« Seine Lippen zuckten vor Belustigung und Mitgefühl. Siebzehn Jahre war kaum hochbetagt, obwohl die meisten Mädchen zwischen vierzehn und sechzehn heirateten. Sie verdiente wohl nur am Rande das Attribut »alte Jungfer«. »Dann seid Ihr also freiwillig eine Jungfer geblieben?«
Ablehnung flackerte in ihren tiefblauen Augen auf, und Royce versuchte sich wieder darauf zu besinnen, was sonst noch am Hof über sie gesprochen wurde. Ihm fiel nichts ein - außer, daß ihre Schwester Brenna sie vollkommen in den Schatten stellen sollte. Brennas Schönheit, so besagt der Klatsch, ließe die Sonne und alle Sterne verblassen. Royce fragte sich ernsthaft, wie überhaupt irgendein Mann die lammfromme, farblose Blonde dieser feurigen Verführerin vorziehen konnte, aber dann erinnerte er sich, daß er selbst im allgemeinen sein Vergnügen bei engelhaften Blondinen suchte - besonders bei einer. »Seid Ihr aus freien Stücken eine Jungfer?« wiederholte er, war aber weise genug, das Wort, bei dem sie vorhin schon zusammengezuckt war, erst auszusprechen, nachdem sie einen weiteren Stich vollbracht hatte.
Jenny setzte einen winzigen Stich neben den anderen, noch einen und noch einen, und bemühte sich eisern, gegen das ungewohnte Gefühl
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