Im Koma
Worte »Drew« und »reif« überhaupt in einem Satz verwenden konnte -, hatte es doch nicht ganz gereicht. Dafür waren ihre Züge zu gewöhnlich, ihre Augen zu langweilig und bar jenes Mysteriums, das wahre Schönheit ausmachte.
»Wo ist Lola eigentlich?«, fragte Warren.
»Sean ist mit ihr in der Cafeteria ein Eis essen gegangen.«
»Wer ist dieser Typ überhaupt?«, fragte Warren. »Und wie lange kennst du ihn schon?«
»Was soll das heißen?«
»Gar nichts. Ich hab mich nur gefragt.«
»Was hast du dich gefragt, Warren? Hast du dich gefragt, ob Sean etwas mit der Sache zu tun hatte? Hast du dich gefragt, ob ich meinen Freund gebeten habe, meine Schwester zu überfahren? Hast du dich das gefragt?«
Natürlich nicht. Das glaubst du doch nicht. Oder, Warren?
»Mamü«, rief eine kleine Stimme, und man hörte aufgeregt trippelnde Schritte ins Zimmer kommen.
»O Gott. Bring sie hier weg. Nein. Los. Ich dachte, du wolltest ihr ein Eis kaufen«, sagte Drew in einem einzigen Atemzug.
»Sie hat schon ein Eis gegessen«, protestierte eine Männerstimme.
»Dann kauf ihr noch eins.«
»Was ist mit Tante Casey?«, fragte das kleine Mädchen. »Schläft sie?« »Sie fühlt sich nicht wohl«, antwortete Drew ungeduldig. »Ist sie krank?«
»Sie hatte einen Unfall«, erklärte Warren. »Wird sie wieder gesund?«
»Das hoffe ich doch. Wir drücken ihr die Daumen.« »Kann ich ihr auch die Daumen drücken?« »Ich glaube, das würde ihr bestimmt helfen.« »Gut. Siehst du, Mami? Ich drücke die Daumen.«
»Toll«, sagte Drew. »Und jetzt, Sean, wenn du nichts dagegen hast. Geh mit ihr bitte woandershin.«
»Ich kann ihr etwas vorlesen, Mami.«
»Vielleicht ein anderes Mal. Sean...«
»Okay, okay. Komm, Lola. Du kannst das Stück Kuchen haben, nach dem du eben geschielt hast.«
»Ich hab keinen Hunger mehr.« »Herrgott noch mal, Sean...«
»Weißt du was?«, unterbrach Warren sie. »Ich glaube, im Erdgeschoss gibt es ein Spielzimmer. Möchtest du dir das ansehen?«
»Darf ich, Mami?«
»Unbedingt.«
»Wie wär's, wenn ich euch zeige, wo es ist«, sagte Warren.
»Ich bin sicher, das schafft Sean auch allein«, erklärte Drew ihm. »Wir haben noch einiges zu besprechen.«
»Ich denke, für heute haben wir genug besprochen.«
An Warrens sich entfernender Stimme erkannte Casey, dass er bereits an der Tür war.
»Du kannst auch gehen, Sean«, sagte Drew abschätzig. »Warren, ich warte hier, bis du zurück bist.«
»Mach, was du willst.«
Die Tür wurde geschlossen, und Casey blieb allein mit ihrer Schwester zurück. »Das tue ich immer«, sagte Drew.
KAPITEL 8
»Da wären wir also wieder«, fuhr Drew fort, und Casey stellte sich vor, wie ihre Schwester zum Fenster ging. »Genau wie früher. Nur dass ich damals diejenige war, die mehr oder weniger im Koma lag, während du auf und ab gelaufen bist und überlegt hast, was du mit mir machen sollst.«
Wohl wahr, dachte Casey, als sie im Geist durch die Jahre eilte, die sie unter einem Dach gelebt hatten, die Nächte, in denen sie sorgenvoll darauf gewartet hatte, dass ihre Schwester heimkam, die Tage, die sie damit zugebracht hatte zuzusehen, wie sie ihren Rausch ausschlief, an ihrer Kleidung noch der unverkennbare Geruch von abgestandenem Sex und weichen Drogen.
»Du hast mir immer erklärt, ich würde meinen dreißigsten Geburtstag nicht erleben, wenn ich mein Leben nicht in Ordnung bringen würde«, fuhr Drew mit einem hohlen Lachen fort. »Und nun schau uns an.« Casey spürte, wie sie sich auf die Bettkante plumpsen ließ. »Das nennt man wohl >Ironie des Schicksals<.« Sie atmete tief ein und durch den Mund wieder aus. »Gott, ich kann dich wirklich nicht anschauen. Ich halte es nicht aus.«
Es tut mir so leid, dass du mich so sehen musst, dachte Casey und erinnerte sich an die Aversion ihrer Schwester gegen alles auch nur vage Unangenehme.
»Nicht, dass du so schrecklich aussehen würdest. Das tust du nicht. Für eine Untote siehst du sogar ziemlich gut aus. Du hast einen tollen Teint, die Blutergüsse sind weg, und die Ärzte haben dich ziemlich gut wieder zusammengeflickt. Also Casey«, sagte sie wütend. »Genug ist genug. Du hast deinen Standpunkt hinreichend deutlich gemacht. Ich bin ein kompletter Versager, der ohne dich nicht klarkommt. Ich hab verstanden. Und jetzt wach aus diesem albernen Koma auf, und komm zu uns zurück. Ich weiß, dass du da bist.«
Weißt du das wirklich?
»Du musst aufwachen. Es ist nicht fair. Was du machst, ist
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