Im Krebsgang
war der Hafen Flensburg vorgesehen. Immer noch herrschte Schneetreiben. Erste Seekranke wurden gemeldet. Als auf der Reede von Hela die gleichfalls mit Flüchtlingen vollbeladene Hansa in Sicht kam, war das Geleit bis auf die drei zugesagten Sicherungsboote vollzählig. Doch dann kam der Befehl zu ankern.
Jetzt will ich nicht alles aufzählen, was dazu geführt hat, daß das von aller Welt vergessene, nein, aus dem Gedächtnis gedrängte, plötzlich aber durchs Internet geisternde Unglücksschiff schließlich ohne die Hansa, die Maschinenschaden hatte, die Fahrt fortsetzte, begleitet nur von zwei Sicherungsbooten, von denen eines bald abgerufen wurde.
Nur soviel: Kaum liefen wieder die Schiffsmotoren, begann auf der Kommandobrücke der Kompetenzstreit. Vier Kapitäne stritten mit- und gegeneinander. Petersen und dessen Erster Offizier - auch er von der Handelsmarine - ließen als Fahrgeschwindigkeit nur zwölf Seemeilen pro Stunde zu. Begründung: Wegen zu langer Liegezeit sei dem Schiff nicht mehr abzuverlangen. Weil aber der ehemalige U-Bootkommandant Zahn feindliche Angriffe aus ihm vertrauter Schußposition fürchtete, wollte er die Fahrt auf fünfzehn Knoten erhöhen. Petersen setzte sich durch. Dann schlug der Erste Offizier unterstützt von den Fahrkapitänen Köhler und Weller vor, auf Höhe von Rixhöft den zwar verminten, aber im Flachwasser vor U-Booten sichereren Küstenweg einzuschlagen, doch Petersen, nun unterstützt von Zahn, entschied sich für den von Minen geräumten Tiefwasserweg, lehnte aber den Rat aller anderen Kapitäne, im Zickzackkurs zu fahren, grundsätzlich ab. Nur die Wetterprognosen schienen unumstritten zu sein: West-Nord-West, Stärke sechs bis sieben, nach West drehend, gegen Abend auf fünf fallend. Dünung vier, Schneetreiben, Sichtweite ein bis drei Seemeilen, mittlerer Frost.
Von all dem, den anhaltenden Querelen auf der Brücke, dem Fehlen einer ausreichenden Zahl von Sicherungsbooten und der zunehmenden Vereisung des Oberdecks - die Flakgeschütze waren nicht mehr einsatzfähig -, wußte Mutter nichts. Sie erinnerte sich, nach der »Fiehrerrede« von der Stationsschwester Helga fünf Zwieback und einen Teller Milchreis mit Zucker und Zimt gereicht bekommen zu haben. Von nebenan, aus der Laube, sei das Stöhnen der Schwerverwundeten zu hören gewesen. Zum Glück habe das Radio Tanzmusik, »flotte Weisen« von sich gegeben. Darüber sei sie eingeschlafen. Keine ersten Wehen. Mutter meinte ja, im achten Monat zu sein.
Nicht nur die Gustloff lief in zwölf Seemeilen Distanz zur pommerschen Küste; das sowjetische Unterseeboot S 13 hielt den gleichen Kurs. Vergeblich hatte das Boot, im Verbund mit zwei anderen Einheiten der baltischen Rotbannerflotte, vor der umkämpften Hafenstadt Memel auf auslaufende oder den Resten der 4. Armee Verstärkung bringende Schiffe gewartet. Tagelang kam nichts in Sicht. Dem Kapitän von S 13 könnte, während er vergeblich auf der Lauer lag, das gegen ihn schwebende Kriegsgerichtsverfahren und also das ihm drohende Verhör durch den NKWD in den Sinn gekommen sein.
Als Alexander Marinesko am frühen Morgen des 30. Januar durch Funkspruch erfuhr, daß die Rote Armee den Hafen der Stadt Memel erobert hatte, gab er, ohne seine Kommandozentrale zu benachrichtigen, den neuen Kurs an. Indem die Gustloff am Oxhöfter Kai noch letzte Flüchtlingsschübe aufnahm - die Pokriefkes wurden eingeschifft -, lief S 13 mit siebenundvierzig Mann und zehn Torpedos an Bord in Richtung pommersche Küste.
Während in meinem Bericht zwei Schiffe einander näher und näher kommen, aber nichts Entscheidendes geschieht, bietet sich Gelegenheit, die Alltagsumstände in einer Graubündener Haftanstalt zu vermerken. Dort saßen an jenem Dienstag, wie an jedem Werktag, die Häftlinge vor ihren Webstühlen. Inzwischen hatte der zu achtzehn Jahren Zuchthaus verurteilte Mörder des einstigen Landesgruppenleiters der NSDAP, Wilhelm Gustloff, neun Jahre Haft verbüßt. Bei entscheidend veränderter Kriegslage - er wurde, weil vom Großdeutschen Reich keine Gefahr mehr drohte, ins Churer Sennhof-Gefängnis zurückverlegt -, glaubte er ein Gnadengesuch einreichen zu dürfen, das aber zur Zeit der Schiffsbewegungen auf der Ostsee vom Obersten Bundesgericht der Schweiz abgelehnt wurde. Doch nicht nur David Frankfurter, auch das nach seinem Mordobjekt benannte Schiff fand keine Gnade.
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Er sagt, mein Bericht habe das Zeug zur Novelle. Eine literarische Einschätzung, die mich nicht
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