Im Krebsgang
die Sowjetunion zu liefern. So diffus ihr Bild zu jener Zeit gewesen sein mag, genau besehen ist Mutter bis heute Stalinistin geblieben, selbst wenn sie, von mir im Streit angesprochen, ihren Helden kleiner zu machen, abzuwiegeln versucht: »Der war och bloß ain Mensch...«
Und um diese Zeit, als Marinesko dem Klima Sibiriens und den Bedingungen sowjetischer Straflager ausgesetzt blieb, Mutter Stalin die Treue hielt und ich als Junger Pionier auf mein Halstuch stolz war, machte sich David Frankfurter, der seine als chronisch eingeschätzte Knochenkrankheit im Zuchthaus ausgeheilt hatte, in Israels Verteidigungsministerium als Beamter nützlich. Inzwischen war er verheiratet. Später kamen zwei Kinder.
Und weiteres geschah in diesen Jahren: Hedwig Gustloff, die Witwe des ermordeten Wilhelm, verließ Schwerin. Seitdem wohnte sie westwärts der innerdeutschen Grenze in Lübeck. Das Klinkerhaus in der Sebastian-Bach-Straße Nr. 14, das sich das Ehepaar kurz vor dem Mord hatte bauen lassen, war bald nach Kriegsende enteignet worden. Ich sah den soliden Bau, das typische Einfamilienhaus, im Internet. Auf seiner Website war mein Sohn überspannt genug, die Forderung zu stellen, es müsse das zu Unrecht enteignete Gebäude als »Gustloff-Museum« eingerichtet und einem interessierten Publikum zugänglich gemacht werden. Weit über Schwerin hinaus bestehe Bedarf nach sachkundig ausgestellter Information. Von ihm aus könne links vom Fenster des Balkonvorbaus weiterhin eine Bronzetafel verkünden, daß von fünfundvierzig bis einundfünfzig Mecklenburgs erster Ministerpräsident, ein gewisser Wilhelm Höcker, in dem enteigneten Haus gewohnt habe.
Auch stoße er sich nicht an der wie folgt auslaufenden Tafelinschrift: »... nach der Zerschlagung des Hitler-Faschismus«. Das sei nun mal Fakt, wie die Ermordung des Blutzeugen Fakt bleibe.
Mein Sohn verstand es, Bilder und Bildchen, Tabellen und Dokumente geschickt zu plazieren. So konnte auf seiner Website nicht nur die Vorder-, auch die Rückseite des überragenden Granits, aufgerichtet am Südufer des Schweriner Sees, besichtigt werden. Er hatte sich Mühe gegeben und neben der fotografierten Gesamtansicht des Steins eine
Vergrößerung der sonst schwer lesbaren Inschrift zur Anschauung gebracht, die auf der Hinterseite gemeißelt stand. Übereinander drei Zeilen: »Gelebt für die Bewegung - Gemeuchelt vom Juden - Gestorben für Deutschland«. Da die mittlere Zeile nicht nur den Namen des Täters aussparte, sondern betont alle Juden zu Meuchelmördern erklärte, war anzunehmen - und so wurde es auch später gedeutet -, Konny habe sich von der einseitigen Fixierung auf den historischen David Frankfurter gelöst und seinen Haß auf »den Juden an sich« demonstrieren wollen.
Doch diese Erklärung und auch weitere Suche nach dem Motiv bringen kaum Licht in das, was am Nachmittag des 20. April 1997 geschah. Vor der um diese Zeit geschlossenen und wie unbelebt wirkenden Jugendherberge spielte sich etwas ab, das nicht vorgesehen war und doch auf dem bemoosten Fundament der ehemaligen Ehrenhalle wie eingeübt seinen Abschluß fand.
Was hatte den virtuellen David bewogen, von weither, aus Karlsruhe, wo der achtzehnjährige Gymnasiast als ältester von drei Söhnen bei seinen Eltern wohnte, leibhaftig per Bahn nach Schwerin zu reisen und einer vagen Einladung zu folgen? Und was hatte Konny gejuckt, die übers Internet entstandene, im Grunde fiktive Freundfeindschaft durch eine tatsächliche Begegnung ins Reale zu verlagern? Die Einladung zu dem Treffen lauerte so versteckt im sonstigen Wortmüll ihrer Kommunikation, daß sie nur dem als David zeichnenden Streitbruder verständlich werden konnte.
Nachdem die Jugendherberge als Treffpunkt abgelehnt worden war, hatten sie sich zum Kompromiß bequemt. Man wollte sich dort treffen, wo der Blutzeuge geboren wurde. Eine Quizfrage, da auf der Website meines Sohnes weder Stadt, Straße noch Hausnummer angegeben waren. Dennoch reichte der Hinweis einem Kenner der Materie; und David war wie Konny, der sich online Wilhelm nannte, mit allem, selbst mit unsinnigsten Details der verdammten Gustloff-Story vertraut. Wie sich während des Besuches zeigen sollte, wußte er sogar, daß das Gymnasium, in dem Wilhelm Gustloff bis zur mittleren Reife Schüler gewesen war und das man nach seiner Ermordung, nunmehr als Oberschule, nach ihm benannt hatte, seit DDR-Zeiten Friedensschule heißt. Mein Sohn respektierte nicht nur die umfassenden Kenntnisse
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