Im Krebsgang
Bauern-Staat genug hatte und von Ostberlin aus in den Westen wollte, hat sie mich, den Fuchs um den Hals, zum Bahnhof begleitet. Später, viel später dann, als nach einer kleinen Ewigkeit die Grenze weg war und Mutter Rente bezog, trat sie beim Treffen der Überlebenden im Ostseebad Damp mit ihrem stets gepflegten Fuchsfell auf; einzig sah sie aus zwischen den neumodisch aufgetakelten Damen ihres Alters.
Und als sich Mutter am ersten Prozeßtag, an dem nur die Anklage verlesen wurde und mein Sohn die Tat umstandslos zugab, sich aber jenseits aller Schuld sah - »Ich tat, was ich tun mußte!« -, nicht etwa dorthin setzte, wo Gabi und ich zwangsläufig Seit an Seit saßen, sondern demonstrativ neben den Eltern des von vier Schüssen tödlich getroffenen David Platz nahm, trug sie wie selbstverständlich den Fuchs, der ihr wie eine Schlinge um den Hals lag. Seine spitz zulaufende Schnauze biß oberhalb des Schwanzansatzes in das Fell, so daß die täuschend echt wirkenden Glasaugen, von denen eines während der Flucht verlorengegangen war und ersetzt werden mußte, schräg zu Mutters hellgrauen Augen standen, weshalb ständig ein Doppelblick auf dem Angeklagten lag oder die Richterbank fixierte.
Mir ist es immer peinlich gewesen, sie derart altmodisch kostümiert zu erleben, zumal der Fuchs nicht nach Mutters Lieblingsparfum »Tosca«, sondern vordringlich und zu jeder Jahreszeit nach Mottenkugeln roch; sah zwischendurch mal ziemlich räudig aus, das Biest.
Doch sobald sie am zweiten Prozeßtag als Zeugin der Verteidigung aufgerufen wurde und im Zeugenstand auftrat, war selbst ich beeindruckt: wie eine magersüchtige Diva trug sie zur weißlodernden Frisur das farbige Fell und leitete ihre ersten Antworten, obgleich sie nicht vereidigt wurde, mit der Floskel »Ich schwöre...« ein, worauf sie alles, was sie zu sagen wußte, anscheinend mühelos, wenn auch ein wenig gestelzt, auf Hochdeutsch sagte.
Im Gegensatz zu Gabi und mir, die wir von unserem Recht Gebrauch machten und jede Auskunft verweigerten, war Mutter aussagefreudig. Vor versammeltem Gericht, das heißt vor drei Richtern, dem Vorsitzenden und den beisitzenden, sowie den beiden Jugendschöffen, sprach sie wie zu einer Pfingstgemeinde. Man lauschte ihr, als sie den Jugendstaatsanwalt ins Gebet nahm: Im Grunde sei die schreckliche Tat auch ihr schmerzhaft zugefügt worden. Das Herz sei ihr seitdem zerrissen. Ein feuriges Schwert habe sie geteilt.
Von einer riesigen Faust sei sie zerschmettert worden.
Am Demmlerplatz, wo im Schweriner Landgericht vor der großen Jugendkammer der Prozeß stattfand, gab sich Mutter als seelisch gebrochen. Nachdem sie das Schicksal verflucht hatte, teilte sie in kleinen und großen Portionen aus, sprach das zur Liebe unfähige Elternpaar schuldig und lobte ihr von bösen Mächten und dem Teufelszeug, dem »Computerding«, in die Irre geleitetes Enkelkind als immer fleißig und höflich, sauberer als sauber, allzeit hilfsbereit und überaus pünktlich, nicht nur, was das Erscheinen zum Abendessen betraf. Sie beteuerte: Seitdem ihr Enkelsohn Konrad bei ihr ein- und ausgehe - diese Freude genieße sie seit dessen fünfzehntem Lebensjahr -, habe selbst sie sich angewöhnt, ihren Tag auf die Minute genau zu regeln. Ja, sie bekenne: Das Computerding mit allem, was dazu gehöre, sei leider ihr Geschenk gewesen. Nicht, daß der Junge von der Großmutter verwöhnt worden sei, ganz im Gegenteil. Da er sich so ungewöhnlich anspruchslos gezeigt habe, sei sie seinem Wunsch nach dem »modernen Zeug« gerne nachgekommen. »Hat sich ja sonst nie was gewünscht!« rief sie und erinnerte sich: »Stundenlang konnte mein Konradchen sich mit dem Dings vergnügen.«
Dann, nachdem sie den verführerisch modernen Kram verflucht hatte, war sie beim Thema. Das Schiff nämlich, von dem bisher kein Mensch irgendwas habe wissen wollen, sei für das Enkelkind zum Anlaß für nie ermüdendes Fragen geworden. Doch habe sich »Konradchen« nicht nur für den Untergang »von dem schönen KdF-Dampfer voller Frauen und Kinderchen« interessiert und nur darüber die überlebende Großmutter ausgefragt, vielmehr sei er, nicht zuletzt auf ihren Wunsch, bereit gewesen, seine enormen Kenntnisse, »das ganze Drum und Dran«, mit Hilfe des geschenkten Computers überall hin, bis nach Australien und Alaska sogar, zu verbreiten. »Das ist ja nicht verboten, Herr Richter.
Oder?« rief Mutter und rückte den Kopf des Fuchses in zentrale Position.
Eher beiläufig kam sie
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