Im Krebsgang
Referate, die nicht gehalten werden durften, aber dem Gericht schriftlich fixiert vorlagen, spielten im weiteren Verlauf der Verhandlung eine besondere Rolle.
Was das eine Referat betrifft, haben wir beide versagt. Gabi und ich hätten wissen müssen, was sich in Mölln abgespielt hat. Blind gestellt haben wir uns. Sie als Pädagogin, wenn auch an einer anderen Schule, hat bestimmt zu hören bekommen, warum ihrem Sohn ein Vortrag zu einem brisanten Thema, wie es hieß, »wegen abwegiger Tendenz« verweigert worden ist; doch zugegeben, auch ich hätte mehr Interesse für meinen Sohn beweisen müssen.
Zum Beispiel wäre es möglich gewesen, meine aus beruflichen Gründen leider unregelmäßigen Besuche in Mölln so zu legen, daß ich bei Elternversammlungen hätte Fragen stellen können, selbst wenn es zum Streit mit einem dieser beschränkten Pauker gekommen wäre. Hätte »Warum dieses Verbot? Wo bleibt die Toleranz!« oder Ähnliches rufen können. Womöglich hätte Konnys Vortrag mit dem Untertitel »Die positiven Aspekte der NSGemeinschaft Kraft durch Freude « etwas Farbe in das langweilige Unterrichtsfach Sozialkunde gebracht. Aber ich war auf keiner Elternversammlung dabei, und Gabi meinte, die ohnehin schwierige Situation ihrer Lehrerkollegen nicht durch subjektiv mütterlichen Einspruch erschweren zu dürfen, zumal sie sich selber »strikt gegen jegliche Verharmlosung der braunen Pseudo-Ideologie« ausgesprochen und ihrem Sohn gegenüber immer ihre linken Positionen verteidigt hat, oft zu ungeduldig, wie sie zugeben mußte.
Nichts spricht uns frei. Man kann nicht alles auf Mutter oder die bornierte Paukermoral schieben. Und während der Prozeß lief, haben meine Ehemalige und ich - sie eher zögerlich und ständig auf die Grenzen der Pädagogik verweisend - unser beider Versagen eingestehen müssen. Ach, wäre ich, der Vaterlose, doch nie Vater geworden!
Ähnliche Vorwürfe haben sich übrigens die Eltern des armen David gemacht, der mit Vornamen eigentlich Wolfgang hieß und dessen philosemitisches Gebaren offenbar unseren Konny provoziert hatte. Jedenfalls sagte mir Herr Stremplin, als Gabi und ich mit dem angereisten Ehepaar während einer Verhandlungspause ins anfangs gehemmte, dann aber doch ziemlich offene Gespräch kamen, es sei wohl die rein wissenschaftliche Tätigkeit in einem nuklearen Forschungszentrum und gewiß auch seine allzu distanzierte Beurteilung geschichtlicher Vorgänge gewesen, die zur Entfremdung, mehr noch, zur Sprachlosigkeit zwischen ihm und seinem Sohn geführt hätten. Insbesondere habe seine relativ kühle Betrachtungsweise der nationalsozialistischen Herrschaftsperiode kein Verständnis gefunden. »Nunja, das Ergebnis war wachsende Distanz.«
Und Frau Stremplin meinte, Wolfgang sei immer ein Sonderling gewesen. Mit Gleichaltrigen habe er allenfalls beim Tischtennis Kontakt gesucht. Von engeren Beziehungen zu einer Freundin sei ihr nie etwas bekannt geworden. Doch habe ihr Sohn sich schon früh, seit seinem vierzehnten Lebensjahr, den Vornamen David auferlegt und sich wegen der, weiß Gott, sattsam bekannten Kriegsverbrechen und Massentötungen derart in Sühnegedanken gesteigert, daß ihm schließlich alles Jüdische irgendwie heilig gewesen sei.
Letztes Jahr habe er sich ausgerechnet zu Weihnachten einen siebenarmigen Leuchter gewünscht. Und irgendwie befremdlich sei es gewesen, ihn vor seinem Einundalles, dem Computer in seinem Zimmer, mit einem Käppchen zu sehen, wie es von frommen Juden getragen werde. »Wiederholt hat er von mir verlangt, nur noch koscher zu kochen!«
Allenfalls so könne sie sich erklären, weshalb sich ihr Wolfgang bei seinen Computerspielen als ein David mosaischen Glaubens ausgegeben habe. Ihre Ermahnungen - irgendwann müsse Schluß sein mit den ewigen Anklagen - seien überhört worden. »In letzter Zeit ist uns unser Bub unerreichbar gewesen.« Deshalb wisse sie auch nicht, wie ihr Sohn auf diesen schrecklichen Parteifunktionär und dessen Mörder, einen Medizinstudenten namens Frankfurter, gekommen sei. »Haben wir etwa zu früh aufgehört, erzieherisch auf ihn einzuwirken?«
Frau Stremplin sprach stoßweise. Ihr Mann nickte bestätigend. Wolfgang habe diesen David Frankfurter verehrt. Sein ständiges David-und-Goliath-Gerede sei zwar albern, aber offenbar ernst gemeint gewesen. Die jüngeren Brüder, Jobst und Tobias, hätten ihn des übertriebenen Kultes wegen gefrotzelt. Sogar ein Foto des zur Zeit des Mordes von Davos noch jungen
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