Im Krebsgang
Mannes habe gerahmt auf Wolfgangs Schreibtisch gestanden. Dazu die vielen Bücher, Zeitungsausschnitte und Computerausdrucke. All das werde wohl mit diesem Gustloff und dem nach ihm benannten Schiff zu tun gehabt haben. »Irgendwie schrecklich«, sagte Frau Stremplin, »was damals beim Untergang geschehen ist. Die vielen Kinder. Man wußte davon rein gar nichts. Selbst mein Mann nicht, dessen Hobby die Erforschung der jüngsten deutschen Geschichte ist. Auch ihm hat es an Wissen, was den Fall Gustloff betrifft, leider gefehlt, bis schließlich...«
Sie weinte. Gabi weinte gleichfalls und legte in ihrer Hilflosigkeit eine Hand auf Frau Stremplins Schulter. Auch ich hätte heulen können, aber die Väter begnügten sich mit einem Blick, der wechselseitig Verständnis signalisieren mochte. Wir haben uns noch mehrmals mit Wolfgangs Eltern getroffen, auch außerhalb des Gerichtsgebäudes. Liberale Leute, die eher sich als uns Vorwürfe machten. Immer bemüht, verstehen zu wollen. Wie mir schien, hörten sie während der Verhandlung aufmerksam Konnys in der Regel zu langatmigen Ausführungen zu, als hofften sie, von ihm, dem Mörder ihres Sohnes, Erhellendes zu erfahren.
Mir waren die Stremplins nicht unsympathisch. Er, um die Fünfzig, gab mit Brille und gepflegt grauköpfig den Typ ab, der alles, sogar handfeste Tatsachen relativiert. Sie, Mitte vierzig, doch jünger wirkend, neigte dazu, alles irgendwie unerklärlich zu finden. Als die Rede auf Mutter kam, sagte sie: »Die Großmutter Ihres Sohnes ist gewiß eine bemerkenswerte Person, wirkt aber auf mich irgendwie unheimlich...«
Über Wolfgangs jüngere Brüder hörten wir, daß sie ganz anders geartet seien. Und um die Schulleistungen ihres ältesten Sohnes, dessen Schwächen in den Fächern Mathematik und Physik, machte sie sich noch immer Sorgen, als wäre Wolfgang »irgendwie« lebendig und werde demnächst doch noch das Abitur schaffen.
Wir saßen in einem dieser neu eingerichteten Cafés auf Barhockern um einen zu hohen Rundtisch. Einmütig hatten wir Cappuccino bestellt. Kein Gebäck dazu. Manchmal kamen wir vom Thema ab, so, als wir meinten, den etwa gleichaltrigen Stremplins die Gründe für die frühe Scheidung unserer Ehe gestehen zu müssen. Gabi vertrat kurzum die Ansicht, notwendig gewordene Trennungen seien heute normal und dürften nicht als schuldhaft gewertet werden. Ich hielt mich zurück und überließ meiner Ex alles halbwegs Erklärbare, dann aber wechselte ich das Thema und brachte ziemlich konfus die in Mölln und Schwerin nicht zum Vortrag gekommenen Schulreferate ins Gespräch. Sofort stritten Gabi und ich wie während aschgrauer Ehezeit. Ich behauptete, das Unglück unseres Sohnes - und dessen schreckliche Folgen - sei ausgelöst worden, als man ihm untersagt habe, seine Sicht des 30. Januar dreiunddreißig vorzutragen und darüber hinaus die soziale Bedeutung der NSOrganisation »Kraft durch Freude« darzustellen, doch Gabi unterbrach mich: »Durchaus verständlich, daß der Lehrer hat stopp sagen müssen. Schließlich ging es, was dieses Datum betrifft, um Hitlers Machtergreifung und nicht um den zufällig auf den gleichen Tag datierten Geburtstag einer Nebenfigur, über dessen tiefere Bedeutung sich unser Sohn lang und breit hatte auslassen wollen, insbesondere bei der Abhandlung seines Nebenthemas Versäumter Denkmalschutz ...«
Vor Gericht lief das so ab: in den Zeugenaussagen zweier Lehrer, die jeweils des Angeklagten gute bis sehr gute Schulleistungen bestätigten, wurden die in Mölln und Schwerin nicht gehaltenen Referate verhandelt. Übereinstimmend - und in diesem Fall gesamtdeutsch - sagten beide Pädagogen aus, es seien die nicht zum Vortrag zugelassenen Texte vordringlich von nationalsozialistischem Gedankengut infiziert gewesen, was allerdings auf hinterhältig intelligente Weise zum Ausdruck gekommen sei, etwa durch Propagierung einer »klassenlosen Volksgemeinschaft«, aber auch durch die geschickt eingefädelte Forderung nach »ideologiefreiem Denkmalschutz« in Hinblick auf das eliminierte Grabmal des einstigen Nazifunktionärs Gustloff, den der Schüler Konrad Pokriefke in seinem zweiten nicht zugelassenen Vortrag als »großen Sohn der Stadt Schwerin« vorzustellen gedachte. Die Verbreitung solch gefährlichen Unsinns habe man aus pädagogischer Verantwortung verhindern müssen, zumal es - an beiden Schulen - in wachsender Zahl Schüler und Schülerinnen mit rechtsradikaler Neigung gebe. Der ostdeutsche Lehrer
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