Im Krebsgang
seines Gegenspielers, er bewunderte dessen »Genauigkeitstick«.
Also trafen sie einander bei schönstem Frühlingswetter in der Martinstraße vor dem Haus Nr. 2, Ecke Wismarsche Straße. Das besondere Datum hatte David schweigend akzeptiert. Ihre Begegnung ereignete sich vor einer seit kurzem neu verputzten Fassade, die die Zeit des so lange anhaltenden Verfalls vergessen machen sollte. Es heißt, sie hätten sich mit Handschlag begrüßt, und David wäre, sich vorstellend, dem lang aufgeschossenen Konrad Pokriefke als David Stremplin entgegengekommen.
Danach stand, auf Konnys Vorschlag, ein Stadtbummel im Programm. Sogar der immer noch stehende Backsteinkasten mit Teerpappendach auf einem der Hinterhöfe der Lehmstraße, wo Mutter und ich während der Nachkriegsjahre gehaust hatten, wurde dem Besucher während der Besichtigung der Schelfstadt wie eine Sehenswürdigkeit gezeigt, desgleichen die noch immer zerfallenen und die schon renovierten Fachwerkhäuser des pittoresken Viertels. Konny führte David zu allen Plätzen und Verstecken meiner Jugendzeit so zielsicher, als seien es seine gewesen.
Nach der Schelfkirche Sankt Nikolai, innen wie außen, war natürlich das Schloß auf der Schloßinsel dran. Man nahm sich Zeit. Mein Sohn trieb nicht zur Eile. Sogar den Besuch des benachbarten Museums hatte er vorgeschlagen, aber sein Gast zeigte kein Interesse, wurde ungeduldig, wollte nun endlich doch das Gelände vor der Jugendherberge sehen.
Während ihres Stadtbummels haben sie dennoch eine Pause eingelegt. In einem italienischen Eiscafé hat jeder eine ziemliche Portion Gelati gelöffelt. Konny gab sich als zahlender Gastgeber. Und David Stremplin soll freundlich, doch aus ironischer Distanz von seinen Eltern, dem Atomphysiker und der Musikpädagogin, erzählt haben. Ich könnte
wetten, daß mein Sohn über Vater und Mutter kein Wort verloren hat; bestimmt aber wird ihm die Überlebensgeschichte seiner Großmutter in Andeutungen wichtig gewesen sein.
Dann endlich haben sich die ungleich großen Feindfreunde - der mehr in die Breite gehende David war einen Kopf kleiner - durch den Schloßgarten, vorbei an der Schleifmühle, über die Schloßgartenallee, die von in strahlendem Weiß aufgeputzten Villen zur teuren Adresse gemacht worden war, dann über den Waldschulweg dem Tatort genähert, der sich flach unter Bäumen erstreckte. Anfangs sei es spannungsfrei zugegangen. David Stremplin habe die Aussicht auf den See gelobt. Hätten auf der Tischtennisplatte vor der Jugendherberge Schläger und Ball gelegen, wäre es vielleicht zu einem Match gekommen; Konny und David waren leidenschaftliche Tischtennisspieler und hätten eine sich bietende Gelegenheit kaum versäumt. Womöglich wäre eine schnelle Partie übers Netz entspannend gewesen und hätte dem Nachmittag einen anderen Verlauf gegeben.
Dann standen sie auf sozusagen historischem Grund. Doch selbst die vom Moos überzogenen Granitbrocken und das Fragment des Findlings mit dem eingemeißelten Runenzeichen und dem restlichen Namen gaben keinen Anlaß zum Streit. Beide haben sogar zweistimmig über ein Eichhörnchen gelacht, das von Buche zu Buche sprang. Erst als sie auf dem Fundament der ehemaligen Ehrenhalle standen und als mein Sohn seinem Gast erklärt hatte, wo genau der große Gedenkstein gestanden habe, nämlich hinter der damals nicht vorhandenen Jugendherberge, dann erst, als er die Sichtachse auf den Granit angedeutet, daraufhin den Namen des Blutzeugen auf der Vorderseite des Steins und dann die drei gemeißelten Zeilen der Hinterseite Wort für Wort deklamiert habe, soll David Stremplin »Als Jude fällt mir nur soviel dazu ein« gesagt und dann dreimal auf das vermooste Fundament gespuckt, also den Ort des Gedenkens, wie mein Sohn später aussagte, »entweiht« haben.
Gleich danach fielen die Schüsse. Trotz des sonnigen Tages trug Konny einen Parka.
Aus einer der geräumigen Taschen, der rechten, zog er die Waffe und schoß viermal. Es war eine Pistole russischer Herkunft. Der erste Schuß traf den Bauch, die folgenden Kopf, Hals und Kopf. David Stremplin stürzte wortlos rücklings. Später legte mein Sohn Wert darauf, genauso oft getroffen zu haben wie einst in Davos der Jude Frankfurter, wenn auch mit keinem Revolver. Und wie dieser hat er von der nächsten Telefonzelle aus sich selbst angezeigt, nachdem er 110 gewählt hatte. Ohne an den Tatort zurückzukehren, machte er sich auf den Weg zur nächsten Polizeiwache, wo er sich mit den Worten
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