Im Kreis des Wolfs
ihr hinunterbeugen musste, um sie zu verstehen. Es klang, als sei sie mitten in einem Gespräch, das sie bereits seit einer Weile in ihrem Kopf geführt hatte. Offenbar lag dies an den Betäubungsmitteln, doch es schien, als sei sie schon auf halbem Weg ins Jenseits, gönne sich jetzt eine kleine Rast und schaue noch einmal auf ihr Leben zurück, ehe sie es endgültig verließ.
»Ich habe nachgedacht, Joseph, über all diese Tiere. Ich habe auszurechnen versucht, wie viele es gewesen sind. Was glaubst du, wie viele?«
»Winnie, ich …« Er hielt ihre Hand. Er hatte keine Ahnung, wovon sie redete. Ihre Stimme klang wie die Stimme eines träumenden Kindes.
»Wie viele? Es müssen mehr als tausend gewesen sein. Zehntausende vielleicht. Oder Hunderttausende. Glaubst du, dass es so viele waren, Joseph?«
»Winnie«, sagte er leise. »Was denn für Tiere, Winnie?«
»Könnten es eine Million sein? Nein, eine Million nicht. Nicht so viele.«
Sie lächelte ihn an, und er fragte noch einmal, was für Tiere sie meine.
»Na, Dummkopf, die Tiere, die du umgebracht hast. In all diesen Jahren. Ich habe versucht, sie zusammenzuzählen. Es sind so viele, Joseph. All diese Leben, jedes von ihnen ein einzelnes, einzigartiges Leben.«
»Du solltest dich nicht über so was aufregen.«
»Ach, ich rege mich nicht auf. Ich habe nur darüber nachgedacht, sonst nichts.«
»Nachgedacht?«
»Ja.«
Plötzlich runzelte sie die Stirn und sah ihn aufmerksam an.
»Glaubst du, Joseph, dass ihr Leben genauso ist wie unseres? Ich meine, das, woraus es gemacht ist, dieser kleine Funke in ihnen, der Geist oder was es auch immer sein mag. Glaubst du, es ist das gleiche, was wir auch in uns haben?«
»Nein, Liebes, natürlich nicht. Wie könnte es denn das gleiche sein?«
Ihre Überlegungen schienen sie erschöpft zu haben, denn sie sank mit geschlossenen Augen aufs Kissen zurück, ein leises, zufriedenes Lächeln auf den Lippen.
»Du hast recht«, seufzte sie. »Was bin ich dumm. Wie könnte es denn auch das gleiche sein.«
Der Schneesturm wütete bereits seit zwei Stunden. Er blies aus Nordosten, direkt über den See, und Helen hörte ihn wie einen Chor der verdammten Seelen um die Hütte heulen. Sie war froh, dass sie ihre abendliche Suche nach den Wölfen rechtzeitig eingestellt hatten, stemmte den Deckel vom Ofen auf und ließ ein weiteres Scheit Holz hineinfallen, das einen kleinen Funkenregen auslöste. Das Geräusch weckte Buzz, der lang ausgestreckt auf dem Boden lag und die Wärme in sich aufzusaugen schien. Er warf Helen einen mißbilligenden Blick zu. Sie kniete sich neben ihn und kraulte ihm den Kopf.
»Oh, entschuldige. Tut mir ja
so
leid.«
Er rollte sich auf den Rücken, damit sie ihn am Bauch streicheln konnte.
»Was bist du doch für ein hässlicher, verzogener Köter.«
Luke saß mit dem Rücken zu ihr am Tisch und gab die letzten Daten über ihre Wolfsbeobachtung in den Laptop ein. Er drehte sich lächelnd um und machte sich dann wieder an die Arbeit.
Er kannte sich inzwischen mit der G.I.S.-Software ebensogut aus wie sie, konnte neue Karten zeichnen oder sie auf eine Weise kombinieren, wie es ihr bisher noch nicht eingefallen war, um herauszufinden, warum die Wölfe eine bestimmte Route nahmen oder eine Weile an einem bestimmten Ort blieben. Helen war erstaunt, wie schnell Luke lernte. Das galt auch für ihre täglichen Streifzüge im Wald. Er war der geborene Biologe und Naturschützer.
Seit Schnee lag, fuhren sie jeden Tag mit dem Pick-up oder dem Schneemobil in die Berge, bis sie ein starkes Signal auffingen, schnallten die Skier an und machten sich auf die Suche nach Spuren. Wenn sie welche fanden, folgten sie ihnen bis zur letzten Beute der Wölfe, die im Schnee einen ziemlich grausigen Anblick bot. Helen musste wieder an Lukes Erzählung von der Elchjagd mit seinem Vater denken und befürchtete, dass dieser Anblick schlimme Erinnerungen in ihm weckte.
Sie hatten die Spuren zu einem Maultierhirsch, einer jungen Kuh, zurückverfolgt, die die Wölfe nur Stunden zuvor gerissen und dann auf eine Lichtung gezerrt hatten. Der Schnee dort war voller Blut. Während Helen sich an die Arbeit machte, den Kadaver vermaß und ihm Proben entnahm, beobachtete sie Luke aus dem Augenwinkel und stellte überrascht fest, wie gelassen er war.
Abends in der Hütte hatten sie beim Essen darüber geredet, und ohne auch nur ein einziges Mal zu zögern oder zu stottern hatte Luke ihr erklärt, warum es anders war. Als er damals
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