Im Kreis des Wolfs
denen sie etwas verspürte, das seinen Gefühlen nicht ganz unähnlich war. Außerdem fehlte ihr die körperliche Nähe aus jenen Tagen, in denen sie nach dem Eintreffen von Joels Brief verzweifelt in seinen Armen geweint hatte.
Doch ihre Gefühle waren immer noch hoffnungslos verwirrt. Innerhalb einer Sekunde fiel sie von höchster Begeisterung in tiefste Verzweiflung. Außerdem war die Vorstellung, dass zwischen ihnen etwas sein könnte, einfach absurd. Er war schließlich mehr als zehn Jahre jünger als sie, noch ein Junge eben. Mein Gott, als sie in seinem Alter war, damals am College … na ja, der Vergleich hinkte vielleichtdoch ein bisschen. Damals war sie mit weit älteren Männern – einer sogar Mitte dreißig, beinahe doppelt so alt wie sie – ausgegangen. Doch Beziehungen zwischen Männern und jüngeren Frauen waren irgendwie anders. Obwohl sie mit Courtney und ihrem Vater auch so ihre Probleme hatte.
Luke stand an der Tür und wollte gehen.
»Wann morgen früh?«, fragte er.
»Um acht.«
»Okay. Dann g-gute Nacht.«
»Nacht, Professor.«
Als er die Tür öffnete, rutschte eine Ladung Schnee auf ihn herab, der gleich darauf ein heulender Windstoß folgte. Der Sturm war keineswegs abgeflaut, wie Helen geglaubt hatte. Nur war sein Tosen vom Schnee, den er gegen die Hütte getrieben hatte, gedämpft worden. Luke drückte heftig gegen die Tür, um den Schnee hinauszuschieben, der heruntergefallen war. Als er sie wieder geschlossen hatte, drehte er sich lachend und über und über mit Schnee bedeckt zu ihr um.
»Schon wieder da?«, fragte sie.
Luke erwachte in völliger Dunkelheit und brauchte einen Moment, um sich zu erinnern, wo er war. Er lag mit dem Rücken auf der klumpigen Matratze im oberen Bett, horchte auf das gedämpfte Tosen des Windes und fragte sich, was ihn geweckt hatte.
Er lauschte, ob er Helen im unteren Bett atmen hören konnte, doch er vernahm nur das Schnarchen des Hundes und ein gelegentliches Knacken im Ofen. Ehe sie ins Bett gegangen waren, hatten sie nachgelegt und ihre Kleidung anbehalten, um nicht zu frieren, wenn der Ofen später ausging. Er blickte auf das erleuchtete Zifferblatt seiner Armbanduhr. Es war kurz nach drei.
»Luke?«, flüsterte Helen.
»Ja.«
»Geht’s Ihnen gut da oben?«
»Ja, prima.«
Das letzte Scheit im Ofen fiel in sich zusammen, ließ Asche durch den Feuerrost regnen und erfüllte die Hütte für einen Augenblick mit bernsteinfarbenem Glanz.
»Ich hab mich nie bedankt«, sagte sie.
»Wofür?«
»Für alles. Dafür, dass Sie sich um mich gekümmert haben.«
»Dafür brauchen Sie sich nicht bedanken.«
»Warum haben Sie nie gefragt, was passiert ist?«
»Ich dachte mir, w-w-wenn Sie es mir erzählen wollen, t-t-tun Sie’s schon.«
Und jetzt tat sie es. Er hörte zu, versuchte, sich Orte vorzustellen, an denen er nie gewesen war, und das Gesicht dieses Mannes, den sie geliebt hatte. Er hatte sie verlassen, also musste er wohl verrückt sein. Sie redete in monotonem, fast schon sachlichem Tonfall, aber wenn sie manchmal innehielt, konnte er sie schlucken hören, und er wusste, dass sie gegen ihre Tränen ankämpfte.
Doch sie hielt sie zurück. Erst als sie ihm von dem Brief berichtete, dem, den Luke auf dem Weg gefunden und ihr an dem Abend gegeben hatte, an dem Abe Harding den Wolf erschoss, konnte sie nicht mehr weitersprechen, und er wusste, dass sie weinte. Nach einer Weile fuhr sie fort und erzählte ihm noch von der Frau, die Joel wohl inzwischen geheiratet hatte. Luke lag schweigend im Bett über ihr in der Dunkelheit.
»Tut mir leid«, sagte sie schließlich, als sie fertig war. »Ich dachte, ich schaff ’s, ohne zu heulen.« Er hörte, wie sie schniefte und sich dann die Nase putzte.
»Ich hab gedacht, er ist der Richtige. Aber so kann man sich täuschen. Wie gewonnen, so zerronnen. Ich hoffe nur, die beiden sind glücklich.« Sie schwieg einen Moment. »Quatsch, ich hoffe, sie braten in der Hölle.«
Sie lachte kurz auf und schniefte. Luke hätte ihr am liebsten gesagt, dass der Kerl sie sowieso nicht verdient habe und sie froh sein könne, ihn loszusein, doch es stand ihm nicht zu, so etwas zu sagen.
Lange Zeit sprachen sie kein Wort. Unten vor dem Ofen stieß Buzz leise, wimmernde Laute aus, während er in seinen Träumen vermutlich Bären jagte.
»Was ist mit Ihnen?«, fragte sie schließlich.
»Wie meinen Sie das?«
»Mit Freundinnen und so. Ich hab Sie auf dem Jahrmarkt mit einem ziemlich hübschen Mädchen reden
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