Im Kreis des Wolfs
sie wäre bei ihm. Doch heute suchte er nach etwas anderem, fand eine Schachtel mit Opern-CDs und legte einfach aus Neugier die erste auf, die ihm unterkam,
Tosca.
Er zündete die Laterne an, heizte den Ofen und schmolz Schnee darauf, um sich etwas Heißes zu trinken zu machen. Nach einer Woche fand er es fast normal, mit Buzz allein in der Hütte zu leben, obwohl kaum eine Minute verging, in der er nicht an Helen dachte. An Weihnachten hatte sie ihm auf ihrer Mailbox eine lange Nachricht hinterlassen, ihm von der Hochzeit und ihrer neuen Stiefmutter erzählt und zum Schluss dann gesagt, dass sie ihn sehr vermisse und ihm fröhliche Weihnachten wünsche.
Weihnachten auf der Calder-Ranch war auch nicht fröhlicher gewesen als sonst. Lane, seine ältere Schwester, hielt sich bei ihren Schwiegereltern auf, so dass nur Kathy, Clyde und Lukes Eltern da waren. Sein Vater hatte schlechte Laune und schloss sich in sein Büro ein. Die Frauen unterhielten sich in der Küche, während Clyde sich betrank und dann vor dem Fernseher einschlief. Luke spielte vor allem mit dem Baby. Irgendwann sagte er dann, er müsse Buzz füttern und Helens Mailbox abhören. Dann war er zur Hütte geflohen. Helens Nachricht hatte er wohl ein dutzendmal abgespielt.
Seitdem war kein Anruf mehr von ihr gekommen. Er sah auch jetzt wieder nach, doch außer Dan Prior hatte niemand eine Nachricht hinterlassen. Sie wollten morgen fliegen, und Dan bat ihn, um sieben Uhr am Flugplatz zu sein. Außerdem sagte er, endlich seien die Ergebnisse vom DNA-Test des jungen, halsbandtragenden Rüden eingetroffen. Sie seien ziemlich interessant, da daraus hervorgehe, dass sich seine Gene von denen der anderen Tiere unterschieden, es sich bei ihm also um einen Streuner handeln müsse.
Als Luke sich Tee gemacht und ein Stück vom Weihnachtskuchen seiner Mutter gegessen hatte, war die Hütte warm, und in
Tosca
ging es so richtig zur Sache. Die italienische Sängerin, die sich anhörte, als würde sie keinen Spaß verstehen, regte sich gerade mächtig über irgendwas auf und schmetterte ordentlich drauflos. Obwohl Luke kein Wort verstand, fand er es gar nicht mal so schlecht.
Er zog seinen Parka aus und setzte sich gerade auf Helens Bett, um die Stiefel auszuziehen, als er ein Geräusch hörte. Zuerst glaubte er, jemand im Orchester spiele falsch oder mit dem CD-Player sei etwas nicht in Ordnung. Dann hörte es auf. Doch Buzz hatte es offensichtlich auch gehört und wirkte seltsam aufgeregt.
»Ist nur
Tosca«,
beruhigte ihn Luke und widmete sich wieder seinen Stiefeln. »Auf italienisch.«
Erst als er das Geräusch erneut hörte, wusste er, was es war.
Er ging ans Fenster und schaute hinaus. Die ersten Sterne erschienen bereits am klaren, rosafarbenen Himmel, doch war es noch hell genug, um den Wolf zu sehen.
Es war das Alpha-Weibchen. Es stand am Waldrand auf der anderen Seite des zugefrorenen Sees, dort, wo Luke Helen vor – wie er meinte – einer Ewigkeit nachspioniert hatte. Das weiße Fell hob sich deutlich vor dem Hintergrund der dunklen Bäume ab. Selbst ihr Halsband konnte er ausmachen, und während er das Tier betrachtete, hob es erneut den Kopf und heulte. Es war ein Heulen, wie er es noch nie von einem Wolf gehört hatte, denn es begann mit einem kurzen, lauten Kläffen wie bei einem Hund. Rasch griff Luke nach Helens Fernglas.
Buzz war völlig außer Rand und Band. Er winselte, doch Luke befahl ihm, still zu sein, was eigentlich unnötig war, da die italienische Sängerin sowieso alles übertönte. Luke drehte die Lampen ein wenig herunter und beschloß, die Tür einen Spaltbreit zu öffnen, um die Wölfin besser sehen zu können. Doch kaum war die Tür offen, da drängte sich Buzz schon an ihm vorbei. Und noch ehe er ihn fassen konnte, war der Hund draußen und raste wie ein Wahnsinniger zum See hinunter. Luke rannte aus der Hütte.
»Buzz! Nein!«
Es war sinnlos, ihm hinterher zu rufen. Buzz war vermutlich sowieso nicht mehr zu retten, und sollte das ganze Rudel in der Nähe sein, würde es ihn ganz bestimmt in Stücke reißen. Die Wölfin hörte auf zu heulen, stand reglos mit erhobenem Schwanz da und beobachtete den Hund, wie er näher kam.
Hastig suchte Luke mit dem Fernglas den Waldrand ab. Wenn die anderen Tiere in der Nähe waren, dann ließen sie sich jedenfalls nicht blicken. Luke lief den Hang hinunter, sank aber gleich beim ersten Schritt bis zu den Knien ein und fiel kopfüber in den Schnee. Er würde nicht schnell genug bei ihnen
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