Im Kreis des Wolfs
älteren Kühe konnte man zum Kalben ohne weiteres auf der Weide lassen, doch die jüngeren blieben im Korral, wo man sie leichter im Auge behalten konnte.
Der jeweilige Tag der Besamung wurde notiert, und wenn die Tiere soweit waren, wurden sie einzeln gegen Läuse besprüht und bekamen Spritzen gegen infektiösen Durchfall und andere Verdauungsstörungen. Jetzt, in der zweiten Woche, kamen etwa zwanzig Kälber am Tag zur Welt, und langsam wurde es hektisch.
Das Wetter machte alles noch schlimmer. Manchmal war es Ende März schon warm wie im Frühling, doch nicht in diesem Jahr. Tag für Tag braute sich ein neuer Schneesturm zusammen, und die Temperatur blieb weiter unter Null. Sobald eine Färse aussah, als wäre es bei ihr soweit, wurde das Tier in eine Box im Kälberstall getrieben. Hatte die Geburt aber bereits eingesetzt, lud man das Kalb, sobald es geboren war, auf eine Karre und brachte es aus der Kälte. Wenn dieFärse die Ohren nicht rasch genug ableckte, musste man sie mit einem Fön wieder auftauen, denn Kälber mit erfrorenen Ohren wollte schließlich niemand kaufen.
Der Platz im Stall war knapp, und sobald ein Kalb am Euter saugte, wurde es mit seiner Mutter wieder hinaus in die Kälte getrieben, manche der armen, kleinen Dinger zum Schutz vor der Kälte mit einem Tesamollband um die Ohren. Es war riskant, sie so rasch wieder nach draußen zu scheuchen, da unter Umständen die Bindung zwischen Kalb und Mutter nicht stark genug war, so dass man ein, zwei Tage später die eine oder andere Kuh fand, die das falsche Kalb säugte.
Die Männer arbeiteten nachts in Schichten von zwei, drei Stunden, und keiner von ihnen bekam mehr als vier Stunden Schlaf. Luke hatte Ray um vier Uhr früh abgelöst und bislang eine relativ ruhige Zeit gehabt. Nur einmal gab es ein Problem, als er nämlich zwei Kojoten entdeckte, die sich am Korral herumtrieben. Sie konnten ziemlich schnell sein und holten sich manchmal ein Kalb, bevor die Mutterkuh begriff, was passierte. Für solche Fälle lag stets ein Gewehr griffbereit. Sein Vater und Clyde hätten die Kojoten erschossen, aber Luke scheuchte sie bloß fort und war froh, dass es keine Wölfe waren. Hoffentlich hielt sich das Rudel auch von den übrigen Ranches fern.
Er mistete den Stall aus und ging dann zurück zu den Korrals, um noch einmal nach einer überfälligen Färse zu sehen. In der letzten Stunde hatte sie etwas mitgenommen gewirkt, und Luke fragte sich, ob etwas mit ihr nicht in Ordnung war. Unterwegs dachte er an Helen und an ihre traurige Begegnung vom Vortag.
Er hatte sie über eine Woche lang nicht gesehen. Und da er wusste, dass sie ganz in seiner Nähe war, vermisste er sie stärker, als wäre sie tausend Meilen entfernt. Er war unterwegsin die Stadt, um noch einige Spritzen zu besorgen, als ihm ihr Pick-up entgegenkam. Sie hielten auf der Straße an, standen Fenster an Fenster und unterhielten sich kurz. Nicht wie ein Liebespaar, eher wie Freunde, die irgendwie verlegen waren.
»Ich wollte rauf in die Hütte, aber ich komm einfach nicht weg«, sagte er. »Mein D-D-Dad …«
»Ist schon okay. Das versteh ich doch.«
»Warst du auf Spurensuche?«
»Ja, und ich glaube, du hast recht. Es scheint nur noch drei oder vier Wölfe zu geben. Außerdem werden nicht mehr so viele Tiere gerissen.«
»Hast du schon F-F-Fußangeln gefunden?«
»Nein, aber ich glaube trotzdem, dass sich da oben jemand herumtreibt.«
»Warum?«
Sie zuckte die Achseln. »Spuren, Kleinigkeiten, ich weiß nicht. Und ich habe eine Stelle gefunden, an der jemand eine Weile kampiert hat. Muss aber nichts zu bedeuten haben.«
Sie sagte, den Signalen nach zu urteilen, schienen die Wölfe von den Bergen herunterzukommen, dichter an die Ranches heran, als wollten sie das Kalben auskundschaften.
»Kommen sie auch zu uns?«
»Ja, auch zu euch.«
Sie sah traurig aus, und eine Weile schwiegen sie. Es gab zugleich soviel und nichts zu sagen.
Sie fröstelte. »Ich bin die Kälte leid.«
»Alles in Ordnung?«
»Nein. Mit dir?«
»Nein.«
Er streckte die Hand aus. Sie griff danach und hielt sie fest. Erst dann bemerkte er die Schrift auf der Tür desPick-up. Jemand hatte in riesigen Lettern HURE daraufgekratzt.
»Lieber Gott«, sagte er.
»Nett, was?«
»Wann ist denn das passiert?«
»Gestern Abend.«
Luke sah einen Laster aus der Stadt kommen. Sie blockierten die Straße. Helen entdeckte den Laster ebenfalls und ließ rasch seine Hand los.
»Hast du’s dem Sheriff
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