Im Kreis des Wolfs
die Pfütze unterm Vorhang gesehen, und so haben sie mich entdeckt.«
»Was haben sie getan?«
Helen holte tief Luft. »Na ja, sie waren ziemlich betroffen, irgendwie erleichtert und wütend zugleich. Doch ich habe mich bloß gefragt, warum um alles in der Welt kein Mensch hinterm Vorhang nachgesehen hat, bevor die ganze Maschinerie in Bewegung gesetzt wurde. Ichmeine, all diese eigens ausgebildeten Polizisten, Sozialarbeiter und Rettungsleute, und keiner schaut hinterm Vorhang nach!«
»Haben sie dich b-b-bestraft?«
»Ja, sie haben mich ein Jahr lang zu dieser Seelenklempnerin geschickt. Und die hat gesagt, ich hätte ein Problem mit der Realität, deshalb würde ich mich auch so gern verstecken.«
»Und was glaubst du?«
Helen schaute ihn an. »He, weißt du was, du würdest selbst einen ganz guten Seelenklempner abgeben. Genau das hat sie auch immer gefragt: ›Und was glaubst du?‹«
Luke lächelte. »Und?«
»Ich denke, sie hatte verdammt recht.«
Beinahe hätte ihr Luke erzählt, wie er sich anfangs da unten bei den Bäumen versteckt und sie beobachtet hatte. Doch plötzlich begriff er, warum sie ihm all das erzählte.
»D-D-Du glaubst, dass wir genau das tun, stimmt’s? Uns v-v-vor der Realität verstecken.«
»Ja, ich glaub schon.«
»Ich find’s hier z-z-ziemlich real.«
»Ich weiß.«
»Weißt du, ich hab nachgedacht. W-W-Wir könnten im Sommer zusammen verreisen. Rauf nach Alaska oder sonstwohin. Und im Herbst kommst du dann mit nach Minneapolis.«
Sie lachte.
»W-W-Warum denn nicht? Du könntest deine Doktorarbeit zu Ende schreiben.«
»Ach, Luke.« Sie seufzte. »Ich weiß nicht.«
»Warum nicht?«
Er betrachtete ihr im Schatten liegendes Gesicht. Der dämmrige Himmel spiegelte sich nicht mehr in ihrenAugen. Er senkte den Kopf und küsste sie. Sie zog ihn sanft zu sich herunter, und in beiden regte sich Verlangen.
Das war eben ihre Art, jene Fragen zu beantworten, die sich mit dem Kopf noch nicht lösen ließen.
Als er in sie eindrang, sah er vor seinem geistigen Auge das Bild eines kleinen Mädchens, das wie versteinert hinter einem karmesinroten Vorhang stand. Doch als die Nacht sie umhüllte, verschwand das Bild.
Lucy Millward schien sich im Sattel wohler zu fühlen als ihr künftiger Gatte. Doug und Hettie hatten allerdings dafür gesorgt, dass er den ruhigsten Gaul der ganzen Ranch bekam, einen dunkelbraunen Wallach, der eigentlich Val hieß, von Lucy aber gern Valium genannt wurde. Es war nicht ganz klar, ob Dimitri das wusste, denn er hockte auf seinem Pferd, als wollte es ihn geradewegs in die Hölle tragen.
»Er ist eben ein Stadtjunge«, hatte Hettie ihrer Freundin Eleanor leise zugeflüstert, als sie der Hochzeitsgesellschaft beim Aufsitzen zusahen. »Aber wer braucht schon Pferde, wenn ihm hundert Ölquellen gehören?«
Jetzt saßen alle im Korral auf Bänken aus Heubündeln und beobachteten das Geschehen. Lucy und Dimitri gaben einander vor der Kulisse der Berge, des sich rötenden Himmels und unter einem mit roten, weißen und blauen Bändern umwickelten Torbogen am westlichen Ende des Korrals das Jawort.
Ihre Pferde standen, Seite an Seite, der Stute des Geistlichen gegenüber. Auf beiden Seiten aufgereiht saßen jeweils drei Brautjungfern und drei Pagen hoch zu Ross. Die Mädchen trugen weiße Kleider, die Jungen schwarze Anzüge und Hüte, Lucys jüngerer Bruder Charlie ausgenommen, dem der Hut schon zweimal fortgeflogen war.
Lucy hatte Lilien in ihr blondes Haar geflochten, undjedes Mal, wenn ihr weißes Satinkleid anmutig im Wind wehte, waren ihre weißen Lacklederstiefel zu sehen. Dimitri trug einen schwarzen Hut mit schmaler Krempe, einen schwarzen Smoking, Stiefel, Sporen und eine schwarze, schmale Krawatte. Von den Videokameras und einem klingelnden Handy einmal abgesehen, wirkte das Ganze wie ein Tableau aus dem Wilden Westen.
Eleanor saß zusammen mit Kathy auf einem Heuballen, Clyde und Buck auf dem nächsten. Sie hatte Buck heute zum ersten Mal seit ihrem Auszug wiedergesehen, doch die Begegnung war nicht so unangenehm, wie sie befürchtet hatte.
Sie war mit Ruth ein wenig früher gekommen, um Hettie bei letzten Vorbereitungen zu helfen. Als Buck eintraf, ging er ihr ostentativ aus dem Weg. Er grüßte jedermann und scherzte mit allen, doch Eleanor wusste, dass er dieses Theater allein für sie aufführte. Fast kam es ihr so vor, als beobachte sie einen Fremden. Er sah verändert aus, blasser und älter, als habe seine Haut ihren Glanz
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