Im Kreis des Wolfs
durchgehen, was andere nicht mehr akzeptierten. Heute jedoch kamen zu Stadt und Wetter noch einige andere Faktoren, die sie aus der Fassung brachten, nicht zuletzt die Tatsache, dass sie neunundzwanzig wurde, in ihren Augen ein Quantensprung in Richtung Alter. Es war fast wie dreißig werden, nur noch schlimmer, denn mit dreißig war das Schlimmste schon passiert. Wenn man erst dreißig war, konnte man ebensogut auch vierzig oder fünfzig sein. Oder tot. Denn entweder hatte man dann ein lebenswertes Leben, oder man würde es höchstwahrscheinlich nie haben.
Morgen war ihr Geburtstag, und wenn es denn das Schicksal nicht anders wollte, würde sie beim Morgengrauen noch immer arbeitslos, unverheiratet und unglücklich sein.
Es war zu einem alljährlichen Ritual geworden, dass ihr Vater sie an ihrem Geburtstag zum Essen einlud, wo immer sie beide auch gerade leben mochten, und meist trennten sie mindestens einige hundert Meilen. Stets war es Helen, die sich auf den Weg machte, da ihr Vater viel zu tun hatte undimmer noch glaubte, dass es für sie, die sich die meiste Zeit irgendwo in der Wildnis herumtrieb, eine Wohltat sein müsse, ab und zu in die Stadt zu kommen. Und wenn es dann wieder soweit war, hatte Helen vergessen, wie sehr sie diese Stadt hasste.
Einen Monat im voraus trafen mit der Post ein Flugticket und die genauen Angaben ein, wie sie zu irgendeinem eleganten Restaurant gelangte, und Helen telefonierte herum, verabredete sich mit Freunden und wurde ganz aufgeregt. Sie liebte ihren Vater, und in letzter Zeit waren die Geburtstagsessen die einzigen Gelegenheiten, ihn zu sehen.
Ihre Eltern ließen sich scheiden, als sie neunzehn war. Ihre zwei Jahre jüngere Schwester Celia war damals gerade aufs College gekommen, und Helen studierte Biologie an der Universität von Minnesota. Beide Mädchen kehrten zum Erntedankfest nach Chicago zurück. Gleich nach dem Essen schoben ihre Eltern die Teller beiseite und verkündeten ihnen in aller Ruhe, dass sie ihre Aufgabe, die Kinder großzuziehen, erfüllt hätten und von nun an getrennte Wege gehen würden.
Die Ehe, so gestanden sie ihnen, sei schon seit Jahren unglücklich, und sie hätten beide einen anderen Partner, mit dem sie zusammenleben wollten. Das Haus sollte verkauft werden, doch die Mädchen würden natürlich je ein eigenes Zimmer in den beiden neuen Heimen bekommen. Man benahm sich überaus vernünftig und zeigte keinen Groll. Doch das machte es für Helen nur noch schlimmer.
Sie fand es entsetzlich, dass in ihrem Zuhause, in dem ihrer Meinung nach zwar nicht gerade ein glückliches, aber auch nicht ganz unglückliches Leben geführt worden war, insgeheim ein solches Elend herrschte. Ihre Eltern hatten entweder gestritten, schlechte Laune gehabt oder sich gegenseitig mit zahllosen Sticheleien schikaniert. Aber daswar Helen stets normal erschienen, ein Verhalten, wie es doch gewiss in allen übrigen Familien vorkam. Und jetzt stellte sich heraus, dass sie sich in all diesen Jahren verabscheut und ihr Zusammenleben nur um der Kinder willen ertragen hatten.
Celia benahm sich mustergültig, so wie sie es stets getan hatte und immer tun würde. Sie weinte, ging zu ihren Eltern und umarmte sie, woraufhin diese auch in Tränen ausbrachen, während Helen sie verwundert anstarrte. Ihr Vater streckte die Arme aus und wollte sie ebenfalls an sich ziehen, doch Helen stieß seine Hand fort und schrie: »Nein!« Und als man sie anflehte, schrie sie noch lauter: »Nein! Ihr Arschlöcher! Ihr verdammten Arschlöcher!« Und stürmte aus dem Haus.
Damals fand sie ihre Reaktion angebracht.
Ihre Eltern schienen zu glauben, dass sie ihren Kindern ein kostbares Geschenk gemacht hätten, weil sie sich nicht früher hatten scheiden lassen und die Kopie einer glücklichen Kindheit ebenso gut sei wie das Original. Doch ihr eigentliches Geschenk war von ganz anderer Art und sehr viel beständiger.
Denn Helen hatte sich seither nicht mehr von der Vorstellung befreien können, dass sie schuld am Leid ihrer Eltern war. Deutlicher ging es doch nicht: Wäre sie nicht gewesen – und natürlich Celia, aber da Celia nicht gerade zu Schuldgefühlen neigte, musste Helen die Last für sie beide tragen –, hätten ihre Eltern schon vor Jahren ihre »getrennten Wege« gehen können.
Die Scheidung bestätigte ihren lang gehegten Verdacht, dass Tiere weit verlässlicher als Menschen waren. Und im nachhinein schien es ihr kein Zufall zu sein, dass sie etwa zur gleichen Zeit ein
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