Im Kreis des Wolfs
der Wildnis oberhalb von Hope. Seit mehreren Jahren hatte dort kein Mensch länger als ein oder zwei Nächte verbracht, doch danach zu urteilen, wie es drinnen aussah, hatten in ihr Vögel, Insekten und diverse Nagetiere des Öfteren Unterschlupf gefunden.
Der Pick-up gehörte Bill Rimmers Bruder, der eine Art Pflegeheim für unheilbare Fahrzeuge auf seinem Hof unterhielt. Selbst mit einem neuen Vergaser standen die Chancen schlecht, dass der Toyota den Winter überlebte. Dan würde außerdem noch ein Schneemobil für sie auftreiben müssen.
Er betrachtete prüfend die Gesichter der eintreffenden Passagiere und fragte sich, ob Helen noch so wie früher aussah. Gestern Abend hatte er ein Foto ausgegraben, das vor fünf Jahren im nördlichen Minnesota, wo sie zusammen gearbeitet hatten, aufgenommen worden war. Sie hockte vorn in einem Kanu, sah über die Schulter zu ihm und lachte ihn mit ihren großen braunen Augen an. Sie trug dieses alte weiße T-Shirt mit den abgeschnittenen Ärmeln, auf dessen Rücken »Achtung: Alpha-Weibchen« stand. Ihr langes, braunes Haar war von der Sonne ausgebleicht. Sie trug es zu einem Zopf gebunden, wie er es am liebsten mochte, weil man so ihren gebräunten Nacken sehen konnte. Dan hattevergessen, wie hübsch sie aussah, und er blieb lange sitzen, um dieses Bild anzustarren.
Was zwischen ihnen vorgefallen war, konnte man kaum als richtige Affäre bezeichnen. Nur in dieser einen Nacht am Ende eines langen Sommers gemeinsamer Feldforschung geschah, was häufig geschieht, wenn zwei Menschen draußen in der Wildnis arbeiten und ganz allein auf sich gestellt sind.
Dan hatte sich zu ihr hingezogen gefühlt, mehr, als es umgekehrt der Fall gewesen war. Er liebte ihre Schlagfertigkeit, diesen widerborstigen Sinn für Humor, mit dem sie von ihren eigenen Empfindlichkeiten ablenkte und den sie vor allem dazu benutzte, sich selbst auf den Arm zu nehmen. Zufällig aber war sie auch eine der gescheitesten Wolfsbiologen, die er kannte.
Damals hatte er ein Forschungsprogramm über Wölfe an der Universität durchgeführt, und Helen war eine seiner freiwilligen Helferinnen gewesen. Er hatte ihr beigebracht, wie man eine Falle aufstellt, und im Handumdrehen wusste sie besser damit umzugehen als er selbst.
Eines Abends dann, als sie unter sternenübersätem Himmel an einem See kampierten, war Dan seiner Mary das einzige Mal seit ihrer Hochzeit untreu geworden. Er hatte den Fehler begangen, dies Helen am nächsten Morgen zu erzählen, und damit war es dann vorbei. Er brauchte eine Weile, um über diese Geschichte hinwegzukommen, aber irgendwann hatte er es geschafft, und sie blieben Freunde und Kollegen, bis er schließlich eine andere Stelle annahm.
Während er jetzt die Menschenmenge nach ihrem Gesicht absuchte, überlegte er, ob es möglich sei, die alten Gefühle von neuem zu wecken, doch zugleich ermahnte er sich, nicht so verdammt blöd zu sein.
Dann sah er sie.
Sie kam gleich hinter einer aufgebrachten Frau mit zwei kleinen heulenden Kindern durch die Tür, die ihr den Weg versperrten. Helen entdeckte ihn sofort und winkte ihm zu. Sie trug Jeans und ein weites, beigefarbenes Armeehemd. Das einzige, was sich an ihr verändert hatte, waren ihre Haare, die sie jetzt kurz wie ein Junge trug. Sie kam einfach nicht an den weinenden Kindern vorbei, doch endlich hatte sie es geschafft und stand vor Dan.
»Was hast du denen getan?«, fragte er.
Helen zuckte die Achseln. »Nichts, ich habe einfach nur gesagt, guckt euch den Kerl bei dem Bären an, und gleich haben sie losgeheult.«
Er lächelte, und sie umarmten sich.
»Willkommen in Montana.«
»Danke sehr, mein Herr.« Sie trat einen Schritt zurück, hielt ihn aber immer noch fest und betrachtete ihn.
»Siehst gut aus, Prior. Macht und Erfolg scheinen dich kaum verändert zu haben. Und ich dachte, du würdest neuerdings Anzüge tragen.«
»Hab mich extra fein gemacht.«
»Und immer noch keinen Cowboyhut?«
»Ach, weißt du, ich habe zwei davon zu Hause, und ab und zu setze ich einen davon auf, schau in den Spiegel und sehe dann, wie mich so ein merkwürdiger Typ anstarrt.«
Sie lachte. »Schön, dich wiederzusehen.«
»Danke, gleichfalls. Was ist mit deinen Haaren passiert, Helen?«
»Frag nicht. Ich hab sie mir letzte Woche schneiden lassen. War ein großer Fehler. Aber eigentlich solltest du jetzt sagen, dass dir meine neue Frisur gut gefällt.«
»Ich könnt mich dran gewöhnen.«
»Lieber wäre mir, ich könnt mich selber dran
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