Im Kreis des Wolfs
ziemlich vollgestopft, sah aber im Licht der Gaslampe gemütlich aus. Der Boden stand voller Kisten, in denen sie offenbar alle möglichen Dinge aufbewahrte, Bücher ebenso wie Wolfsfallen. Ein roter Schlafsack lag zerknautscht auf dem unteren Bett. Auf dem Boden daneben steckte eine Kerze in einem Glas, außerdem lag da noch ein Buch, dessen Titel er nicht lesen konnte. Er entdeckte zudem etwas, das wie ein halbfertiger Brief aussah, sowie einen Stift und eine Stirnlampe. Er stellte sich vor, wie sie im Bett lag und an jemanden schrieb. Er fragte sich, wer dieser jemand war.
In einer Ecke hatte sie eine Wäscheleine gespannt, auf derein Handtuch und einige Kleider zum Trocknen hingen. Ihr Handy und der CD-Player waren an zwei Sechs-Volt-Batterien mit Niederspannung angeschlossen, die sich unter dem Fenster befanden. Auf dem Tisch stand ihr Computer, umgeben von einem Durcheinander aus Notizen, Grafiken und Karten.
Ebenfalls in der Ecke sah er einen Eimer mit einer darüber gespannten Blechdose. Als sie die Becher mit heißem Kakao brachte, bemerkte sie, dass er stirnrunzelnd den Eimer betrachtete. Sie sagte ihm, dass es eine Mausefalle sei, und zeigte ihm, wie sie funktionierte.
»Und d-d-das klappt?«
»Darauf können Sie wetten. Funktioniert jedenfalls besser als meine Wolfsfallen.« Sie musterte ihn mit zusammengekniffenen Augen und stellte die Becher auf den Tisch.
»Wollen Sie sich nicht doch das nasse Hemd ausziehen? Sie dampfen ja regelrecht.«
»Ist schon okay.«
»Sie werden sich noch erkälten.«
»Und Sie hören sich an wie meine M-M-Mutter.«
»Tu ich das? Erkälten Sie sich ruhig, ist mir doch egal.«
Luke lachte. Er begann, sich ein wenig zu entspannen.
»Aber
ich
will mich nicht erkälten«, fuhr sie fort. »Wenn Sie mich also einen Augenblick entschuldigen würden, ziehe ich mich jetzt in mein Ankleidezimmer zurück.«
Sie ging an ihren Schrank, wandte sich von ihm ab und zog sich das T-Shirt aus. Er erhaschte einen Blick auf ihren Rücken und ihren BH, sah dann rasch weg, hoffte, dass er nicht rot wurde, und suchte krampfhaft nach einer unverfänglichen Bemerkung, die sich anhörte, als wäre es für ihn nichts Besonderes, dass sich eine Frau vor ihm auszog.
»Bin ich immer n-n-n-noch verhaftet?«
»Ich denk drüber nach.«
Sie drehte sich wieder um, setzte sich an den Tisch und betrachtete ihn mit einem verschmitzten Lächeln. Sie hatte sich einen hellblauen Wollpullover angezogen. Ihr Haar war immer noch nass und schimmerte im Lampenlicht. Sie nahm sich ihren Kakao, wölbte die Hände um die Tasse und nahm nachdenklich einen Schluck.
»Kommt drauf an«, sagte sie.
»Auf was?«
Sie stellte die Tasse ab, griff nach einer der Karten und breitete sie vor ihm aus.
»Darauf, ob Sie mir zeigen, wo ich diese Wölfe finden kann.«
15
Der alte Elchbulle stand mit gesenktem Haupt da; neun gelbe Augenpaare beobachteten ihn aus der Dunkelheit. Sein Geweih hatte die volle Größe und eine Spannweite von fast anderthalb Metern. Er war groß wie ein Pferd und wog nahezu sechshundert Kilo. Aber er lahmte und hatte das beste Alter hinter sich; das wusste er, und das wussten auch die Wölfe.
Sie hatten ihn in einer Biegung des Bachs aufgespürt, wo er das Ufer in einem Dickicht schlanker Espenzweige abgraste, die sich wie Zebrastreifen vor dem dunklen Braun seiner Flanken abzeichneten. Er hatte sich umgedreht, um sich ihnen zu stellen. Seit fünf Minuten verharrten Jäger und Gejagter nun reglos und rechneten sich ihre jeweiligen Chancen aus.
Die Welpen waren gerade groß genug, um mit den anderen auf Jagd zu gehen, doch hielten sie sich meist bei ihrer Mutter oder einem der Jungtiere im Hintergrund auf. Das Fell der Mutter war viel heller als das ihres Gefährten, desAlpha-Rüden, so dass sie im Zwielicht fast weiß aussah. Die Welpen und die beiden Jungtiere – ein Männchen und ein Weibchen – wiesen unterschiedliche Grauschattierungen auf. Manchmal wurde einer der Welpen unruhig und winselte, als langweile ihn die Warterei, verstummte aber sofort, wenn ihm Mutter oder Vater einen tadelnden Blick zuwarf oder leise knurrte.
Der Elch stand etwa zehn Meter vor ihnen. Hinter ihm glitzerte der Bach bronzen im Licht der untergehenden Sonne. Ein Schwarm Fliegen tanzte über dem Wasser.
Jetzt regte sich der Alpha-Rüde. Sein Schwanz war buschiger als der der anderen Tiere, und normalerweise trug er ihn auch höher, doch jetzt hielt er ihn dicht über dem Boden, während er langsam im Halbkreis
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