Im Kühlfach nebenan
»Wenn du bei dem Anblick schon fertig bist, solltest du dir den Rest der Obduktion lieber ersparen«,
fügte ich hinzu.
Sie schluchzte wie ein heulender Orkan. »Du kannst auch draußen warten. Hast du eigentlich das Kühlfach, in dem du gelegen
hast, schon mal gesehen? Es ist die Nummer fünf, gleich neben meinem alten Fach. Vielleicht bringt dich das auf andere Gedanken.«
Taifunstärke. Jetzt wusste ich auch nicht mehr weiter. »Pascha, was ist denn da los?«, fragte Martin. Richtig, er bekam wohl
meine Äußerungen mit, nicht aber die von Marlene. Ich klärte ihn auf.
|123| »Sag mir doch einfach, was du zu sagen hast und dann begleite Marlene an einen freundlicheren Ort.« Ja, das würde ihm wohl
so passen! »Martha hat uns erzählt, dass sie von dem Brandstifter einen kräftigen Schlag auf den Hinterkopf bekommen hat,
kurz bevor die Tür explodierte.« Martin, der die äußere Inaugenscheinnahme inzwischen beendet hatte, stockte kurz. »Einen
Schlag auf den Hinterkopf?«
»Ja.«
»Vor der Explosion?« »Ja.«
»Okay, ich werde darauf achten.« Marlene hatte sich inzwischen etwas beruhigt. Aha, selbst Nonnen sind wie kleine Kinder und
normale Tussen. Sie hören auf zu zetern, sobald sie merken, dass sie damit keine Aufmerksamkeit mehr bekommen.
»Gibt es einen Auffindebericht?«, fragte ich. »Natürlich nicht«, sagte Martin. »Sie war ja nicht tot, als man sie fand.« Mist,
da hatte ich vor Marlene ein bisschen mit meiner inzwischen erworbenen Fachkenntnis der Rechtsmedizin angeben wollen, aber
der Schuss ging voll nach hinten los. Klaro, nur an echten Tatorten werden solche Untersuchungen und Berichte von der Polizei
gemacht. Wenn aber Feuerwehr und Notarzt zu einem Brand mit Verletzten gerufen werden, latschen alle durcheinander, finden
sich cool, wenn sie mit einem dicken Rohr einen Mordsstrahl durch die Gegend spritzen können, und werfen die Opfer in den
nächstbesten Rettungswagen. An einen Auffindebericht denkt da niemand. Die Zeit hat man nur, wenn einem der Tatort nicht unter
dem Arsch abfackelt und die Leiche keine Eile mehr hat.
Katrin diktierte alles, was Martin sagte und tat, und
|124| Martin erledigte seinen Teil der Arbeiten routiniert, ordentlich und präzise, bis er zum Hinterkopf kam. »Der Schädel weist
mehrere Frakturen auf.« Er nannte einige medizinische Fachausdrücke. »Die Art der Frakturen passt im Großen und Ganzen zu
dem von der Polizei erstellten Bericht über die Geschehnisse am Ort der Brandstiftung. Allerdings ist nicht auszuschließen,
dass eine oder mehrere Frakturen dem Opfer vor der Explosion beigebracht wurden.«
Katrin schaltete das Diktafon ab und starrte Martin über ihren Mundschutz hinweg an. »Was soll das?« Martin bemühte sich um
einen unschuldigen Blick, der ihn immer wie einen Schüler aussehen ließ, der dabei erwischt wird, wie er in die Kaffeemaschine
im Lehrerzimmer pinkelt.
»Es ist nicht auszuschließen«, sagte er. »Es weist aber auch nichts darauf hin, oder?« »Es weist auch nichts auf das Gegenteil
hin, oder?« »Im Polizeibericht von der Brandnacht steht, dass die Frau durch die Druckwelle der Explosion nach hinten geschleudert
wurde und mit dem Hinterkopf auf die Steine der Mauer knallte, die den Klosterhügel zum darunterliegenden Platz abgrenzt«,
entgegnete Katrin. »Ansonsten wurde die Frau erst notfallmedizinisch, dann intensivmedizinisch versorgt. Alle Wunden wurden
gesäubert. Sie lag tagelang in Salbenverbände gewickelt im Krankenhaus. Da kann nichts mehr weder auf die eine noch auf die
andere Art der Verletzung hinweisen.«
»Eben«, sagte Martin. Es klang trotzig. »Nix eben«, erwiderte Katrin. »Es gibt keinen Hinweis, dass sie vor der Explosion
einen Schlag auf den Kopf bekommen hat, insofern ist es nicht korrekt, diese Möglichkeit explizit aufzuführen.«
»Wenn ich die mögliche Art der Beibringung dieser Ver-
|125| letzung in meinem Bericht gar nicht anspreche, wird jeder Leser dieses Berichts die Verletzung so interpretieren, dass sie
den bisher bekannten Verlauf der Geschehnisse am Ort der Brandstiftung eindeutig stützt.« Martin hatte seinen Mundschutz abgenommen
und blickte Katrin beschwörend an.
»Na und?«, fragte Katrin. »Wenn es aber nun gar nicht so war?«, fragte Martin. Auch Katrin nahm ihre Maske jetzt ab, ging
um den Tisch mit der Leiche herum und stellte sich nah vor Martin. »Hat die Schwester das Bewusstsein wiedererlangt, bevor
sie
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