Im Kühlfach nebenan
aber die Polizei kommt nicht voran mit ihren Ermittlungen. Wenn du irgendetwas weißt …«
»Aber ich weiß nichts«, antwortete Martha freundlich. Im selben Moment schrillten alle Alarmgeräte los, die Anzeigen flackerten,
die Ausschläge der Messgeräte verebbten und bildeten glatte Linien. Lang gezogene Pieptöne zerrten an unseren Nerven.
»Oh, nein«, hauchte Marlene. »Martha, was ist mit dir?«
»Mach dir keine Sorgen«, entgegnete Martha mit einer vollkommen entspannten, heiteren Gelassenheit. »Ich bin auf dem Weg ins
Licht.« Marlenes Wellen vibrierten wie die Luft in der Boxengasse der Formel-1. »Hey, Schwester, nicht so eilig«, warf ich
ein. »Wir hätten gern erst noch ein paar Antworten auf unsere Fragen.« »Ich lief auf die Tür zu und hatte schon fast die Hand
an der Klinke, als ich aus dem Augenwinkel bemerkte, dass da jemand war«, sagte Martha.
»Eine Schwester?«, fragte Marlene alarmiert.
|115| »Ich weiß nicht. Ich rief: Es brennt! Schnell, die Feuerwehr!«
»Und dann?«, fragte ich. »Erhielt ich einen Schlag auf den Hinterkopf.« Marlene und ich waren sprachlos. »Einen Schlag? Womit?
Wie?«, fragte ich, denn ich weiß von Martin, dass die Rechtsmediziner immer gern den vermuteten Tathergang kennen, um ihn
mit ihren Befunden bei der Obduktion zu vergleichen.
»Womit weiß ich nicht. Aber es war hart.« Marlene konnte sich nicht entscheiden, ob sie vor Entrüstung rasen oder vor Mitleid
heulen sollte. Sie entschied sich für Tränen der Wut. Bildlich, Sie wissen schon. »Und dann explodierte die Tür.« Krankenpfleger
und Ärzte stürzten ins Zimmer, alle schrien durcheinander. Einer popelte Löcher in Marthas Verband und klebte Elektroden auf
das darunterliegende, weitgehend verbrannte Gewebe. Der Anblick war gruselig.
»Los!«, brüllte jemand. Die Mumie zuckte. »Martha!«, rief Marlene in eindeutig hysterischem Tonfall.
»Ich hab dich lieb, Marlene. Aber ich muss jetzt gehen.« »Wohin?«, schrie Marlene. Panikwellen strahlten von ihr aus.
»Ins Licht«, erwiderte Martha. Dann war sie weg. Wie blieben noch eine Weile, während unter uns die Bemühungen um Martha weitergingen.
Marlene hoffte immer noch, dass Martha wiederkäme, und ich wollte ihr diese Hoffnung nicht nehmen, obwohl ich es besser wusste.
Waren die Geister einmal weg, kehrten sie nicht zurück.
Irgendwann sah auch Marlene es ein.
|116| »Ich werde in unserer Klosterkirche ein paar Gebete für Martha sprechen«, murmelte sie. Sichtlich mitgenommen und traurig
schlich Marlene von dannen. Ich dagegen verbrachte den Abend und die halbe Nacht im Kino mit dieser Silikontussi, die dauernd
Kinder aus der Dritten Welt adoptiert. Ist mir aber egal, solange sie zwischendurch immer wieder heiße Filme mit viel Action
und viel Sex dreht. Ich sah mir den Film um halb neun und um elf an. Eine Nachtvorstellung gibt es ja leider nicht. Ist aber
kein Problem. Es gibt genügend Leute, die vor dem Fernseher einpennen, der dann die ganze Nacht ohne Zuschauer weiter vor
sich hin dudelt. Wenn man einen mit einem guten Programm findet, kann man so eine Nacht schon mal ganz entspannt verbringen.
Ist fast genauso unterhaltsam wie die Notaufnahme, aber da ist unter der Woche leider wenig los. Jedenfalls brauchte ich das
Ablenkungsprogramm, um mir nicht ständig dieselbe Frage zu stellen: Wieso fanden die meisten Seelen den Weg in eine andere
Welt, nur Marlene und ich nicht? Waren wir doof? Oder unabkömmlich? Ich ballerte mir die Birne mit Actionfilmen zu, um bloß
keine Antwort darauf zu finden.
Am Donnerstagmorgen traf Martin gegen neun Uhr im Rechtsmedizinischen Institut ein. Normalerweise beginnt er seine Arbeit
spätestens um acht, aber heute hatte sein Arzt ihn noch einmal sehen wollen. Keiner konnte sich seinen übertriebenen Arbeitseifer
erklären. Der Arzt nicht, Birgit nicht, und ich schon gar nicht. Die Einzige, die sich wirklich richtig zu freuen schien,
war Katrin.
»Herzlich willkommen«, stand an Martins Arbeitsplatz. Die Buchstaben waren in einer dieser Witzschriften aus dem Computer
ausgedruckt, farbig ausgemalt und quer über seinen Schreibtisch gelegt. Das Büro war leer, aber |117| kaum hatte Martin Butterbrotdose und Apfel auf den Schreibtisch gelegt und die Jacke ordentlich auf seinen Bügel (den einzigen!)
an die Garderobe gehängt, drängten die Kollegen herein, allen voran Katrin.
»Martin, endlich«, rief sie. Und umarmte ihn. Ich wollte mich in Martin
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