Im Labyrinth der Abwehr
Gründe dieser Morde noch interessierten ihn die Opfer.
Das finstere vierstöckige Gebäude am Berliner Tirpitzufer, wo die Abwehr untergebracht war, betrachtete Steinglitz als den Tempel des Allerhöchsten, als dessen Herrscher Canaris, der geheime Auftraggeber des Mordes an Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg, nicht ohne Ursache galt. In den Jahren des ersten Weltkrieges, als Canaris als deutscher Spion in Italien verhaftet wurde, hatte er es zuwege gebracht, den Gefängnisgeistlichen zu erwürgen und in dessen Kleidern zu fliehen. Ein kraftstrotzender Mann mit grauen Haaren, rotwangig, von demokratischer Geselligkeit, mit verwöhnten Herrenmanieren, zur Schau getragener Absonderlichkeit und rührender Liebe zu Haustieren, ein Kunstsammler, Musikfreund und zärtlicher Familienvater, unterwies er väterlich und mit großer Sachkenntnis seine Agenten in der Kunst des Menschenumbringens. Er schätzte bei den Agenten berufliche Disziplin und hatte eine Abneigung für jene, die zu selbständigen Entschlüssen neigten.
Eines Tages hatte Steinglitz von Canaris den Auftrag erhalten, sich nach England zu begeben und einem Kurier des englischen Außenministeriums eine Aktentasche mit Dokumenten zu stehlen, wenn er zusammen mit seiner Bewachung den Wagen verließ und ins Ministerium ging. Die Aktentasche war mittels eines stählernen Kettchens am linken Handgelenk des Kuriers befestigt.
Als Steinglitz die Umgebung musterte, in der die Aktion auszuführen war, bemerkte er dort einen Mann, dessen Gesicht ihm bekannt vorkam. Er stutzte, und plötzlich erinnerte er sich, sein Foto in der Kartei der Kriminalpolizei gesehen zu haben: Es war Schermann, ein kleiner Gauner, der durch den brutalen Mord an seiner Geliebten einiges Aufsehen erregt hatte.
Steinglitz war tief beleidigt vom Mißtrauen seines Chefs, der ihm als zweiten Mann eine solche Null geschickt hatte.
In der Britischen Öffentlichen Bibliothek riß er aus einem alten „Völkischen Beobachter" den Artikel über Schermanns Prozeß und sein Foto. Er legte beides in einen festen Umschlag, fügte eine kurze Notiz über dessen jetzigen Aufenthalt hinzu und adressierte das Kuvert an Scotland Yard. Dann machte er sich an seine eigentliche Aufgabe.
Er erwartete den Kurier im Vestibül des Ministeriums, sprang unmittelbar hinter ihm in den Fahrstuhl und schlug die Tür zu, bevor die Begleitmannschaft irgend etwas unternehmen konnte. Hier in der Kabine tötete er den Kurier mit einem Schlagring, trennte mit einer Spezialzange das Kettchen, an dem die Aktentasche befestigt war, und entkam ungehindert aus dem Ministerium.
Am gleichen Tag kehrte Steinglitz nach Berlin zurück. Er rechnete mit einer Beförderung oder zumindest mit einer ansehnlichen Belohnung, doch seine Hoffnungen zerschlugen sich in ein Nichts: Dieser Sieg war für ihn die schwerste Niederlage.
Reinhard Heydrich hatte, als er noch Chef der preußischen Geheimpolizei war, zuverlässige Verbindungen mit der englischen Polizei angeknüpft; nachdem er Chef des Sicherheitsdienstes geworden war, hatte er diese Verbindungen nicht nur beibehalten, sondern sie auf neuer Grundlage weiterentwickelt.
Wie sich herausstellte, war Schermann Agent der Gestapo und erhielt seine Aufgaben unmittelbar von Himmler. Die Engländer informierten Heydrich vom Schicksal Schermanns, und dieser ahnte, wessen Werk das Ende des Agenten Schermann war.
Heydrich triumphierte. Jetzt hatte er Canaris in der Hand: Wenn Himmler erfuhr, daß ein von ihm nach England beorderter Agent von einem Agenten Canaris' liquidiert worden war, würde das dessen Ende bedeuten. Für sein Schweigen konnte Heydrich von Canaris jeden Dienst fordern. Außerdem würde Canaris sich nicht entschließen, Hitler von seiner in London erfolgreich durchgeführten Operation Mitteilung zu machen, da Hitler stets die Gestapo begünstigte. Der Vorteil für Heydrich war offensichtlich: Sein Konkurrent hatte das Nachsehen.
Canaris und Heydrich wohnten Haus an Haus — in einem Vorort Berlins, und sonntags besuchte Heydrich des öfteren seinen Nachbarn, spielte mit dessen Gattin und den beiden Töchtern eine Partie Krocket. Als Heydrich bei einem der üblichen Besuche Canaris von der Denunzierung Steinglitz` berichtete, begriff der Chef der Abwehr sofort, in welcher Gefahr er sich befand. Und er beschloß zu handeln.
Er hätte mit Steinglitz abrechnen können, ihn liquidieren können. Doch er ließ seinen Agenten am Leben. Keineswegs aus Mitleid oder aus Hochachtung vor
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