Im Labyrinth der Fugge
dasselbe verwaschene Rot ihrer Haare und Sommersprossen hatte. Wenn das Mädchen wach war, erzählte Anna ihr Fabeln, bei denen die Kleine jedes Tier nachahmte. Anna nahm die Wachstafel, um die sie die Priorin gebeten hatte, und ritzte mit dem Griffel ein A hinein. A wie Anna, sie zeigte auf sich. Die Kleine umfasste Annas Kettenanhänger.
»Genau, A wie Affe«, sagte Anna erstaunt. Sie schrieb ein B wie Biene und die Kleine summte. Das C wollte sie auslassen, da fiel ihr nur ein Name ein. Doch die Kleine nahm ihr den Griffel aus der Hand, rückte ihn sich selbst in der Rechten zurecht und zeichnete wieder die Fratze mit den vorstehenden Zähnen.
»Canisius? Du meinst Pater Canisius?«, fragte Anna.
Die Kleine nickte heftig.
»Du kannst das Alphabet, du kannst schreiben?« Wieder nickte sie, schrieb D, E, F, G … bis die Tafel voll war.
»Kannst du auch deinen Namen schreiben, wie heißt du?«
Sie schien einen Augenblick zu überlegen, dann strich sie mit der Griffelrückseite das Wachs glatt und schrieb ein P.
»P wie Pater?«, fragte Anna. Die Kleine schüttelte den Kopf. Sie ergänzte das P um eine Wölbung, ein B entstand.
B wie Biene. Dann ein I, ein A, ein N, ein krakeliges K und noch mal ein A.
»Bianka«, las Anna. Von wegen dumm und einfältig. In ihrem Alter hatte Anna noch nicht lesen und schreiben gekonnt.
Bianka spielte wieder mit dem kleinen, weißen Äffchen an Annas Kette, öffnete die Lippen, als suchte sie nach Worten, doch dann kritzelte sie die Wachstafel mit lauter Ks voll.
»K wie … Ob du das Kettchen kriegen kannst?«, fragte Anna. Es gehörte ihr ja eigentlich gar nicht, dieser Kürschner hatte es verloren, K wie Kürschner. Sie streifte die Kette ab und hängte sie Bianka um. Da lächelte Bianka zum ersten Mal.
In der Nacht holten Anna die Schatten ein. Sie wälzte sich herum, versuchte sich abzulenken, dachte an das Wunderbare, das ihr die Priorin gezeigt hatte. Die spitzbogigen Bilder im Kapitelsaal, die alle von bedeutenden Malern vor bald hundert Jahren für das Kloster geschaffen worden waren. Früher hätte sie sich für die Farben und die vielen Einzelheiten begeistert, doch nach der Botschaft von Mechthilds Tod nahm sie alles wie durch einen Schleier war, obwohl sie selbst noch keinen trug.
Vielleicht, dachte Anna, und wickelte sich in die Bettdecke, sollte es eine Vorbereitung sein, das weltliche Leben ganz abzustreifen. Dann spürte man die Kutte und die Einkerkerung nicht mehr. Wieder holte sie der Schmerz ein. Ob Mechthild genau wie Maria namenlos in der Gruft beigesetzt worden war oder war sie zu Asche verbrannt? Anna zwang sich in Gedanken zum Kapitelsaal zu den Basilikabildern zurück. Die Priorin hatte von römischen Kirchen geredet, die alle mit ›Santa‹ begannen, wie sie sonst hießen, fiel Anna nicht mehr ein.
»Beim Besuch der sieben Basiliken in Rom erwirbt man den vollkommenen Ablass«, erklärte sie. »Aber nicht jedem Gläubigen ist es erlaubt, nach Rom zu pilgern. Unser Kloster erwarb dasselbe Ablassrecht in Form dieser Bilder, wer in einem Heiligen Jahr drei Pater Noster und drei Ave Maria vor den Gemälden betet, dem sind alle Sünden vergeben und sein Seelenheil gewiss.«
Bilder sollten Macht besitzen und den Einlass ins Paradies gestatten? Ach, deshalb störte Demetria ihre Gefräßigkeit nicht, sie hatte ihre Absolution schon bekommen.
Anna rief sich die Bilder genauer in Erinnerung. Spitzbogig, in goldene Rahmen gefasst, mehrfach unterteilt. Zwei Bilder an jeder Wand. Drei Wände, sechs Bilder. An der vierten Wand waren buntverglaste Fenster, die in Form und Aufteilung den Bildern glichen. Sechs Bilder, die Priorin hatte aber von sieben römischen Kirchen gesprochen. Merkwürdig. Da fehlte eins, wie sollte das der vollkommene Ablass sein?
Und solch magische Kraft sollten die Bilder besitzen? Würde ihr dann auch vergeben werden, dass sie zornig und ungehorsam war, während ihre braven Geschwister starben? Und dass sie einem Schwerverletzten, auch wenn es ein verkleideter Teufel gewesen war, nicht geholfen hatte? Dass sie Schellebelle beim Sterben zugesehen hatte wie alle anderen Gaffer im Dom? Und dass sie zu träge und selbstbezogen war, um Virginia zu Hilfe zu eilen, bevor es zu spät war?
»Deine Mutter weilt gerade in Rom, wie mir der Pater berichtete«, hatte die Priorin gesagt.
Anna schlug die Fäuste ins Kissen. Ihre Kinder starben und die Gräfin weilt. Das war keine Magie, sondern fauler Zauber. Es gab etwas, das lenkte
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