Im Labyrinth der Fugge
schob die Erde wieder über den Kadaver, sammelte die Pastinaken in einen Korb und stellte ihn Schwester Benefica in die Küche. Als sie sich umdrehte, schlurfte ihr Schwester Hildegard mit dem Stock wedelnd hinterher. Anna blieb stehen.
»Zeig mir deine Arbeiten, die Buchmalerei gleicht der Stickerei, oder nicht?« Sie half der ziegenbärtigen Alten die Stufen zum Skriptorium hinauf. Schwester Hildegard druckste herum. Anna spürte, dass ihr Lob ein Vorwand war, weil sie ihr etwas gestehen wollte, doch Anna kam ihr mit keiner Silbe entgegen. Sollte sie ihre Sünden Canisius beichten! Oder bis zum nächsten heiligen Jahr ausharren, wo durch die Basilikabilder wieder vollkommener Ablass für frisch angesammelte Sünden erteilt wurde.
Das war das Schäbigste an Biankas Ermordung. Durch die päpstlich genehmigte Absolution konnten die Katherinennonnen sogar ungestraft Todsünden begehen. Bianka hatte das verkörpert, was den ewigen Bräuten Christi nie vergönnt war: die Hochzeitsnacht. Anna pflegten sie vermutlich nur gesund, weil sonst Philipps monatliche Spende ausblieb.
Mit jedem Herzschlag zählte sie die Tage bis zum vierten Oktober. Der Pfortenschlüssel von Schwester Hildegards Schlüsselbund fehlte noch. So einfach wie in der Nacht mit Heinrich würde es nicht mehr sein. Sie zeigte Hildegard verschiedene Blätter, die sie gestaltet hatte, erfand eine Geschichte von einem goldenen Schlüssel, die sie zu zeichnen hätte, aber es fehlte ihr die passende Vorlage. Es kam ihr selbst reichlich dünn vor, was sie da versuchte. Wie nebenbei fragte sie Hildegard, für was eigentlich die vielen Schlüssel an ihrem Bund wären.
»Ich trage sie mehr aus Gewohnheit, damit mich der Wind nicht mit fortnimmt. Vor dreißig Jahren habe ich den Bund so von meiner Vorgängerin übernommen. Ich weiß selbst nicht mehr genau, für was die Schlüssel alles sind. Dieser hier …«, sie hielt einen kleinen Vierbärtigen hoch, »… ist für das Tabernakel, aber das sperren wir seit Jahren nicht mehr ab, wie du weißt.«
Anna nickte. »Ihr tragt den Schlüsselbund also Tag und Nacht bei Euch?«
»Wo denkst du hin.« Hildegard lachte. »Man könnte fast glauben, du willst dir die Schlüssel aneignen, um zu fliehen?« Sie kicherte, dass ihre Barthaare zitterten.
Von Pater Canisius war sie gewohnt, dass er Todesfälle überging, und so wunderte sie sich nicht, als er sie um eine Unterredung bat, um mit ihr das Leben des Hieronymus durchzugehen. Er glaubte, der Zeitpunkt sei gekommen, sein Wirken für die Welt darzustellen und Anna dürfte die Bilder beisteuern.
Genau wie Canisius war der Kirchenvater ein Seelsorger reicher Damen gewesen. »Viele der Weibspersonen wurden später heilig gesprochen wie er selbst«, ergänzte Canisius.
Sollte das ein Lockmittel sein, dass als Lohn auch etwas von seinem Heiligenschein auf sie niederstrahlte? Gleich sabbert er wieder, dachte Anna, täuschte aber weiter Aufmerksamkeit vor, als ginge auch für sie ein Traum in Erfüllung.
»Die heilige Marcella, die heilige Lea, die heilige Fabiola von Rom, die heiligen Paula von …«
Anna gähnte. »Verzeiht Pater, die überstandene Krankheit erschöpft mich noch manchmal ein wenig.«
»Gott sei es gedankt, dass du das englische Fieber überstanden hast.« Er wollte ihr die Wange tätscheln. Sie täuschte einen Niesanfall vor und wandte sich ab. »Schwester Demetria sagte, man wüsste nicht, wie lange die Krankheit noch ansteckend sei.«
Er zog seine Hand zurück. »Ich ermüde dich, aber die Heiligen sorgen für uns Lebende, vergiss das nicht. Hieronymus hat sogar einem Löwen einen Dorn aus der Pranke gezogen.«
»Das gäbe doch ein wunderbares Bild für ein Initial«, schlug sie vor und bemerkte an Canisius wässrigen Augen, dass es ein Volltreffer war.
Am Michaelitag hatte sie noch immer keinen Pfortenschlüssel. Wie sollte Hörmann so schnell einen zurechtfeilen und unbemerkt im Kastenschloss der Pforte einpassen können? Es würde ihr nichts anderes übrig bleiben, als der Cellerarin den Schlüssel gewaltsam zu entreißen. Anna verbrachte die letzten Stunden im Skriptorium. Heinrich hatte versprochen, ihr eine eigene Werkstatt einzurichten. Ein letztes Mal beschnitt sie die Feder, ein letztes Mal mischte sie Bleiweiß an. Leise Zweifel beschlichen sie. Als zukünftige Gräfin, vorausgesetzt Heinrich begehrte sie auch bei Tageslicht, gäbe es andere Verpflichtungen als Bücher zu bemalen. Ob sie überhaupt noch Gelegenheit dazu fand?
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