Im Labyrinth der Fugge
sagt man: ›Eine Junge frisst genauso viel wie eine Alte.‹« Der Narr schlug mit einer Hand ein Rad und verbeugte sich.
Anna jubelte dem kleinen Ortenburg zu, der von der Lanze sprang, in die Menge strahlte und zur Tribüne zurück rannte. Sie beugte sich vor. Über der Brüstung hing das Pfauenwappen. Eine Frau, vielleicht siebzehn wie Sidonia, schloss ihren Sohn in die Arme. Annas Gedanken überschlugen sich. Sie kannte Gräfin Ortenburg, nur hatte sie damals nicht gewusst, dass sie eine Gräfin war.
Die Schiedsrichter auf der rot verhängten Tribüne erhoben sich, ein Horn ertönte, doch Anna hörte nicht mehr richtig hin. Sie nahm kaum wahr, wie die beiden Ritter mit gesenkten Lanzen aufeinander zu stürmten.
Sie war wieder neun, die Luft war stickig im Tanzhaus und der Lärm ähnlich groß gewesen wie beim Turnier. Die Paare schritten vom Tanzmeister geordnet durch den Saal. Anna saß am Fenster und hatte Bauchweh von der heißen Xocolatl, die sie mit viel Honig zum ersten Mal getrunken hatte. Sie lief hinaus, um sich im langen Flur hinter einem der vergoldeten Spiegel zu erleichtern, wie das auch die Erwachsenen taten, die ihre verschnörkelten Schambeutel nicht schnell genug aufnesteln oder ihre Seidenschuhe nicht dem schlammigen Weg bis zu den Latrinen über dem Lochbach aussetzen wollten. Anna suchte sich den mittleren Spiegel aus, Paradiesvögel schmückten ihn, doch der Gestank verriet ihr, dass ein anderer sich schon für ihn entschieden hatte. Hinter dem nächsten Spiegel raffte sie ihr Kleid hoch, hockte sich nieder und versuchte mit ihrem Urinstrahl die Spiegelrückwand zu treffen. Am Ende des Ganges kauerte ein Mädchen. Anna stand auf. Das vielfach verzierte, altrosa Kleid sah wie ein eingesunkener Bierwärmer aus. Schlief sie? Anna trat auf Zehenspitzen näher, da stöhnte das Mädchen auf. Es war so tief von innen heraus, dass Anna erschrocken zurück wich. Aus der Nähe war sie nur ein paar Jahre älter als Anna, vielleicht dreizehn oder vierzehn. Das Mädchen riss die Augen auf und brüllte, ihr drohten die Augäpfel herauszufallen.
Anna bückte sich zu ihr. »Was hast du, soll ich Hilfe holen? Drückt dich auch das ungewohnte Xocogetränk oder wie es heißt?«
Sie antwortete nicht, hechelte vor Schmerz, krümmte sich weiter in der Hocke.
»Komm hinter die Spiegel, wir finden schon noch einen unbenutzten für dich, nicht hier auf dem Gang.«
Das Mädchen nahm sie gar nicht wahr, sondern stöhnte lauter. Anna schaffte es, sie hochzuziehen, stützte sie und bewegte sie ein paar Schritte. Da plätscherte es aus ihr heraus.
»Zu spät«, sagte Anna, »aber das trocknet wieder. Du wirst sehen, gleich sind die Leibschmerzen weg, oder kommt noch was?«
Erneut krümmte sich das Mädchen. »Das Kind«, schrie sie plötzlich. »Es kommt.«
Anna drehte sich um. »Ich sehe kein Kind, weit und breit nicht.« Wieder stöhnte das Mädchen, stakste in winzigen Schritten zum Fenster und stützte sich am Sims ab. Schweißtropfen hatten sich auf ihrer Stirn gebildet.
»Hast du Fieber?«, fragte Anna.
»Unten kommt es raus«, presste sie hervor und deutete unter ihren Rock.
Hier sollte sich ein Kind versteckt haben? Anna hob den Rock, dann den Unterrock. Sie sah die dünnen Beine des Mädchens, ein Blutfaden rann an ihren Schenkeln herab. Anna kroch unter die Röcke.
»Hast du dich verletzt, ich muss Hilfe …«, doch Anna verstummte. Zwischen den gespreizten Beinen des Mädchens schob sich ein Köpfchen durch, schwarze Kulleraugen sahen sie im gedämpften Licht des rosa Stoffs an, ein kleiner Mensch, der herauslugte, das Gesichtchen noch zusammengepresst. Das Mädchen stöhnte wieder und Anna, unter den Röcken, fing das Kind auf, das mit einem Ruck herausflutschte.
Ein Wunder war es gewesen, bei dem sie damals dabei sein durfte. Die Geburten ihrer Mutter gingen immer im Geheimen vor sich. Meist wurden die Kinder fortgeschickt, wenn die Dame des Hauses ein Unwohlsein verspürte und sich für Stunden oder auch einen Tag in ihre Gemächer zurückzog. Der kleine Junge schmiegte sich in Annas Arme. Sie hielt ihn noch, als jemand die Nabelschnur durchschnitt und die junge Mutter samt umhüllenden Rock wegtrug.
Ein Schrei holte sie zum Turnier zurück. Gleich in der ersten Runde hatte ihr Vater Graf Ortenburg den Helm vom Kopf gestoßen. Annas Familie applaudierte. Sie beugte sich zur Ortenburgtribüne, das Mädchen von damals war eine Frau geworden, die um ihren Mann bangte. Graf Ortenburgs Gesicht
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