Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Im Labyrinth der Fugge

Im Labyrinth der Fugge

Titel: Im Labyrinth der Fugge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rebecca Abe
Vom Netzwerk:
nicht. Anna trat in den Flur und stieg die erste Stufe nach oben. Canisius legte seine knochige Hand, an der viele Ringe schlackerten, auf ihre Schulter und hielt sie zurück.
    »Anna.« Er kannte ihren Namen. »Hast du mir was zu sagen?«
    »Wo sind meine Eltern, meine Geschwister?«, fragte sie.
    »Beim Gebet.«
    Seit wann betete ihre Familie mitten in der Nacht?
    »Erleichtere dein Herz. Komm, was hast du gesehen?«
    »Wir beichten nicht, Pater.« Schnell löste sie sich von dem unangenehmen Druck seiner Hand und stieg nach oben.
    »Ab heute wirst auch du dich zu den Heiligen bekennen, mein Kind«, erwiderte er.
     
    Sechs Mal schlug die Glocke von St. Ulrich und Afra. Der angebrochene Tag drängte durch die Butzenscheiben ins Treppenhaus. Anna hangelte sich am Geländer nach oben, zog das Laken wie eine Schleppe hinter sich her. Je höher sie kam, desto langsamer ging sie. Wenn sie die Augen schloss, sah sie den röchelnden Mönch mit den riesigen Hörnern vor sich, und Blut, überall Blut. Sogar an ihr klebte es noch, unter dem Laken an ihrem Nachthemd. Ein feines Gebimmel erklang aus dem Salon. Die Tischuhr hinkte mit ihrem Stundenzeiger immer ein wenig hinterher.
    Was sollte sie ihrer Familie sagen? Ihre Beine waren so schwer, als hätte sie Klumpfüße bekommen. Sie wollte aber auch nicht wieder hinunter zu dem Pater, der sie in der Truhe entdeckt hatte. Sprosse für Sprosse zog sie sich am Geländer hoch bis zum Podest, wo die Stufen einen Knick in den ersten Stock machten. Die Vorfahren auf den Gemälden an der Wand starrten sie aus bleiweiß getüpfelten Augen an. Großvater Raymund und Großmutter Katherina, die am selben Tag bei einem Unfall mit der Kutsche ums Leben gekommen waren. Oheim Christoph und Oheim Ulrich als Kind. Das Bildnis zeigte den zehnjährigen Christoph, der einen Arm um seinen vierjährigen, pausbackigen Bruder Ulrich gelegt hatte, und in der anderen Hand hielt er eine Gans am Kragen, als wäre sie ein Schwert. Die Federn der Gans, die Goldlitzen am Wams der Jungen konnte man erkennen, sogar die unterschiedlichen Stoffarten und die seidenen Schuhe. Warum besaß Georg das Gemälde und nicht einer seiner Brüder? Im Zwielicht des Morgens leuchtete die weiße Gans und Christophs Augen folgten Anna bei jeder Bewegung.
    Sie streckte die Arme über die Bilder zu den Musikinstrumenten. Pfeifen in allen Größen hingen da. Die größte Pfeife reichte bis ins obere Stockwerk. Annas Finger fuhren in die Pfeiflöcher, drückten den schlaffen Dudelsack, streichelten die gewölbten Leiber der Lauten mit den geschnitzten Menschenköpfen, zupften an den Saiten. Doch die aufgehängten Hörner und Trommeln blieben stumm. Keiner pfiff, blies oder dudelte: »Anna wach auf, du hast nur schlecht geträumt!«
    Am liebsten wollte sie hier Wurzeln schlagen und festwachsen. Ein Baum im Eck, ein Annabaum, verflochten mit der Holzvertäfelung und den Bildern an der Wand.
    Mit jedem Atemzug glitt die frühere Anna, eine die Fantasietierchen stickte, in den Büchern ihres Vaters nach Abbildungen von nackten Menschen stöberte, auf Pergamentreste kritzelte, mit Virginia auf dem Virginal übte und mit Albert und Mechthild Fangen spielte, aus ihr hinaus. Doch so sehr sie die Instrumente anflehte für sie zu spielen und ihre Großeltern bat, sie auch in Öl zu bannen, das Wimmern des verkleideten Mönchs verklebte ihr die Ohren, setzte sich in ihrem ganzen Leib fest.
    Schellebelle, was hatte sie …, was war ihr … angetan worden? Sie hatte sich nur gewehrt, den Rest erledigte Severin. Ja, er war der eigentliche Mörder. Und ihre geliebte Freundin war stark gewesen. Ein Schauder durchfuhr Anna. Sie rutschte an der Wand hinunter, zog die Beine an und kauerte sich zusammen.
    Woher wusste Pater Canisius, dass sie in der Truhe gesessen hatte? Hatte er den Toten weggeschafft? War der Tote überhaupt weg und wer hatte die Küche geputzt, Schellebelle? Nur die Magd konnte ihr helfen, sie würde wissen, wie es weitergehen sollte. Ihr drehte sich der Kopf und die Augen brannten. Sie verbarg ihr Gesicht im kühlen Laken. Plötzlich roch sie Blut. Mönchsblut. Tod. Ihr wurde schlecht.
    Opa Raymund, Oma Katherina, helft mir!
    Sie streckte den Arm nach oben zu den Gemälden und berührte die Goldrahmen, brachte sie zum Schwingen. Hastig zog sie den Arm zurück. Oben wurde eine Tür geöffnet. Eine Gestalt schob sich aus der Schlafkammer ihrer Eltern. Sie trug etwas und hatte Mühe, aus der Türöffnung zu gelangen. Anna

Weitere Kostenlose Bücher