Im Labyrinth der Fugge
»Und unsere Anna vermisst den Unterricht auch schon. Vielleicht sollte ich ein paar Zusatzstunden für sie veranlassen.«
»Mit Verlaub, Graf, das sehe ich anders. Lesen und schreiben sollte das Weibervolk zwar beherrschen, sofern es von adligem Geblüt ist. Wichtiger ist es hingegen, ihnen die Grundbegriffe des richtigen Glaubens zu lehren. Dazu würde ich mich gerne zur Verfügung stellen.«
»Meinen Töchtern blieb der Katechismus nie verwehrt, wenn Ihr das meint. Sie sind wie alle meine Kinder katholisch getauft, Annas Taufpatin ist die Herzogin Jacobäa aus dem erzkatholischen Haus Wilhelms des Vierten.«
»Versteht mich nicht falsch, ich zweifle nicht an Eurem aufrichtigen Glauben und auch Eure Gattin …«
Georg unterbrach den Pater ungeduldig: »Besprecht es ruhig mit ihr, was die religiöse Erziehung betrifft.«
»Mir ist es ein persönliches Anliegen, Graf Georg, bei den Weibern Zucht und Frömmigkeit zu fördern, die ihnen von Natur aus, seit das Weib Adam aus dem Paradies vertrieben hat, nicht gegeben ist.«
»Wenn ihr so weit zurückgehen wollt, Pater.« Annas Vater seufzte. »Ist Euch ein anregendes Gespräch mit einer gebildeten Dame nicht lieber als mit einer, die nur Stroh im Kopf hat?«
»Gewiss, doch bedenkt, dass ein Weib, das lesen kann, auch Briefe von Liebhabern empfangen kann und kann es schreiben, so ist es in der Lage, darauf zu antworten.«
Wie recht er hatte, würde Anna sich später, Briefe schreibend, erinnern.
Ursula Fugger, in einem hochgeschlossenen dunkelgrauen Kleid, trat ein, küsste Canisius mit einem Knicks die beringte Hand und wies das Gesinde an, Tee und kandierte Früchte zu servieren. »Sehen Sie, Pater. Unsere Anna, die wird es nicht leid, sich die Finger wund zu stechen.«
Canisius drehte sich in ihre Richtung. Anna schob den Stuhl zurück, erhob sich und knickste. Auf diese Entfernung musste er wenigstens nicht Weihwasser sprühen, dachte sie. Und sie musste nicht durch den Mund atmen, um seinen Gestank zu ertragen.
»Die Tugend des Stickens ist für das Weibervolk erfunden worden«, sagte Canisius und nahm auf dem Diwan im großen Salon Platz.
»Wenn Ihr mich nun entschuldigt.« Vater zog sich zurück.
Ursula schloss die Zwischentür und Anna war wieder allein. Gab es Mädchen, die nicht mal die Möglichkeit hatten zu lernen? Sie musste ihren Vater unbedingt um die Zusatzstunden bitten, auch wenn Magister Weißfuß den langweiligsten Unterricht des ganzen Reiches machte. Früher hätte ihre Mutter niemals vor einem katholischen Priester Demut gezeigt, der einzige, vor dem sie knickste, war Vaters Oheim Anton gewesen, den sie am Sterbebett besucht hatte. Danach regte sie sich tagelang auf, Anton hatte ihr Geld geboten, wenn sie konvertierte.
Vor lauter Zuhören waren Anna ein paar Stiche daneben geraten. Sie wollte den Faden aus der Nadel ziehen und auftrennen, doch dann stickte sie einfach weiter, machte runde Bögen aus der Zackenlinie. Wellengleich schwang sich nun die Bordüre über die ganze Deckenlänge. An einem Ende begann sie mit einer schmalen Linie, verdickte sie, füllte sie mit Mustern in allen Farben. Sämtliche Stickstiche, die Anna kannte, wandte sie dabei an. Ährenstich, Federstich, Schlingstich …
Das Dienstmädchen brachte ein Tablett mit Essen, Anna sah kaum auf. Hunger spürte sie nicht, achtete nicht auf ihre wunden Finger, wenn sie im Eifer den Fingerhut vergaß. Einfädeln, vernähen … Wie besessen stickte sie bis spät in die Nacht und dachte sich für das andere Ende der Bordüre noch etwas Besonderes aus, mit dem sie ihre Mutter, wenn sie am nächsten Morgen von der Frühmesse zurückkam, überraschen wollte.
26. Die Schamkapsel
Kellenbenz stürzte sich in die Arbeit, schmiedete Rachepläne und ertränkte sie abends im Weinbrand. Fiel sein Blick auf den Äffchenanhänger an seinem Handgelenk, zerrte der Kummer über den Verlust seiner Tochter manchmal so an ihm, dass er seine wenigen Habseligkeiten zertrümmerte. Wenn er seine Werke auslieferte, schlich er wieder in die Nähe der Fuggerhäuser auf der Kaisermeile, traute sich nicht näher heran und schob seine Karre weiter, als die Wachen auf ihn aufmerksam wurden.
Eines Tages entdeckte er F vor dem städtischen Frauenhaus. Jedenfalls sah der Jüngling in dem zweifarbigen Geckengewand mit protziger Schamkapsel wie ein Abbild des Novizen aus. Vielleicht täuschte sich Kellenbenz auch, F war tot. Die Dirne in seinem Arm überragte den Jüngling um Kopflänge. Sie trug
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