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Im Labyrinth der Fugge

Im Labyrinth der Fugge

Titel: Im Labyrinth der Fugge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rebecca Abe
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ein.
    Von Engelsstimmen erwachte er. War er von allem Irdischen erlöst und nicht im Fegefeuer gelandet? Er atmete erleichtert auf, so einfach war das vor sich gegangen, ohne Pein. Warmes, flackerndes Licht drang durch seine Lider, doch er wagte nicht, die Augen zu öffnen, aus Angst die Engel zu vertreiben. War er nur mehr eine Seele oder hatte er seinen alten, bärengleichen Leib mitgenommen und besaß er auch seine Zunge wieder vollständig? Doch da war nach wie vor eine leere Mundhöhle, der Stummel tänzelte ohne Spitze herum. Langsam erwachten seine Sinne. Jeder Knochen tat ihm weh. Seinen alten Leib hatte er also noch nicht abgelegt. Aber die Eiseskälte war einer drückenden Wärme gewichen. Es roch nach Weihrauch und anderen Schwaden. Es mussten viele Engel sein, ein leises Raunen hing in der Luft. Dann verstummte der Gesang und Worte hoben an, holten ihn mit einem Schlag in die Welt zurück. Diese verhasste Stimme in der unverständlichen Kirchensprache. Ein Engel wimmerte. Kellenbenz wollte es nicht hören, versuchte es wegzudrängen, Engel sollten singen, nicht gequält werden. Er presste sich die Fäuste an die Ohren. Aber die Stimme durchdrang ihn, fuhr in jede Pore, bohrte sich in sein Herz. Dann stieg Qualm in seine Nase, er hustete und vernahm noch weiteres Husten und Räuspern. Es roch nach verbranntem Fleisch.

46. Der Marienaltar
    Wieder kleidete sich Anna schwarz. Doch im Gegensatz zu Marias Beisetzung herrschte an diesem Sonntag ausgelassene, erwartungsvolle Stimmung, als die ganze Familie zum Mariendom aufbrach. Das einfache Volk sammelte sich vor dem Südportal, wo ihm die reich verzierte Bronzetür, mit den Löwenköpfen als Türzieher, den Zugang in das Paradies der Auserwählten verwehrte. Anna hatte dieses Portal oft betrachtet. Gott erschuf Adam, dann Eva aus Adams Rippe, daneben Samson, wie er den Löwen zerriss und eine Hühner fütternde Frau, die das alles nicht berührte.
    Nachdem die Stadtpfeifer zum Einzug der Patrizierfamilien geblasen hatten, begrüßte der Ratsdiener und Geschichtsschreiber Paul Hector Mair das Volk. Er würde den Augsburgern berichten, was sich drinnen abspielte und später, falls es sich als würdig entpuppte, in seiner Chronik festhalten. Es war ein sonniger, warmer Tag, der sich in eine kühle, modrige Dämmerung wandelte, als Anna durch die Bronzetür trat.
    Zu den hundert geladenen Gästen und den Domherren im Ostchor gesellte sich der Scharfrichter mit seiner Familie, abseits vom übrigen dicht gefüllten Kirchenschiff, auf eigens mitgebrachten Stühlen. Anna rutschte zu ihrer Familie in die freigehaltene vordere Bank. Vereinzelt hörte sie hinter sich Getuschel. Meinten sie mit ›Teufelsweib‹ ihre Mutter, weil sie konvertierte? Anna war gespannt, ob es wie bei einem kleinen Kind abgehalten wurde und ihre Mutter in ein Becken getaucht oder nur ihre Stirn benetzt werden würde. Nun bedeckte noch ein schwarzer Spitzenschleier Ursulas Haupt, verhüllte ihr Gesicht vor den neugierigen Blicken. Ein Neugeborenes, so war es bei ihren kleineren Geschwistern gewesen, widersagte mit dem ersten Schrei dem Satan, nur die verstorbene Maria hatte ja nicht geschrien, wie Stinkbeutel betonte.
    Die Glocken läuteten und Pater Canisius schritt ganz in scharlachrot gekleidet aus der Sakristei. Die übliche lateinische Messe begann, begleitet von einem Knabenchor. Anna bemerkte, wie Virginia mitsummte und ihre Hände im Gleichmaß des Chorals bewegte. Nach dem Evangelium trat Canisius vor den Silberaltar und begann mit seiner Predigt. Wann würde er Mutter zu sich holen? Anna stellte sich auf eine langweilige Litanei ein, doch wider Erwarten sprach er auf deutsch von sich selbst, erzählte, dass er als kleiner Junge in Nimwegen, am nordöstlichen Zipfel des Kaiserreichs, in eine Baugrube gefallen und nur knapp dem Höllenfürst entkommen sei, der dort unten auf ihn gewartet hätte und nach seiner Seele grapschen wollte. Aber von oben hätte ihn die Hand des Nikolaus von Esche emporgezogen, sein Retter. Auch wenn ihm seitdem eine verkrüppelte Rippe das Atmen erschwerte, so war er doch ins Helle getreten, konnte dank seinem Gönner die Welt retten. Vereinzelt rotzte jemand laut.
    Er habe Gott damals geschworen, fuhr Canisius unbeirrt fort, jedem die Hand zu reichen, nicht vor Andersartigen oder Aussätzigen zu weichen, sondern die Abtrünnigen wieder ins Licht zu führen. »Licht«, sagte er noch mal lauter, woraufhin die Kerzen im Kirchenschiff ausgeblasen wurden und

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