Im Land der Feuerblume: Roman
Verwundert hatte er den Ort betrachtet, an den er geraten war, ohne dass er sich daran erinnern konnte.
Es wird ihm bessergehen, dachte Elisa, es wird ihm noch viel besser gehen, wenn wir erst einmal von hier fortgegangen sind.
Sie trat zur Tür und beobachtete, wie Annelie mit der dunklen Nacht verschmolz. Es war September und damit schon Frühling, doch die Nächte waren lang und kühl.
Ungeduldig rieb sie ihre Hände aneinander, starrte angestrengt in die Schwärze und lauschte auf die Schritte, die von Annelies Rückkehr künden würden. Sie zuckte zusammen, als plötzlich ein Schatten neben ihr auftauchte. Doch als sie mit einem Aufschrei herumfuhr, sah sie, dass es nur Lukas war, der zu ihr getreten war.
Sie schalt sich innerlich dafür, ihre Anspannung nicht besser im Griff zu haben. »Ist die Trage für deinen Vater fertig?«, fragte sie.
Lukas nickte. »Er kann es kaum erwarten.«
Jakob hatte Christine während der letzten Monate ständig Vorwürfe gemacht, weil sie seinetwegen mit dem Aufbruch warten wollte. »Warum auf mich Rücksicht nehmen?«, hatte er mehr als nur einmal geknurrt. »Tragen müsst ihr mich ohnehin. Ich werde morgen nicht besser laufen können als heute.«
Nun, da bis auf die gelähmten Beine keine sichtbaren Blessuren von seinem Unfall geblieben waren, konnte er sich endlich durchsetzen und fieberte der Flucht genauso entgegen wie alle anderen.
»Wenigstens besitzen wir so wenig, dass es nicht viel zu packen gilt.« Elisa fröstelte, als sie daran dachte, dass sie mit fast nichts hier angekommen waren und mit fast nichts aufbrechen würden – obwohl sie anderthalb Jahre so hart gearbeitet hatten.
Raschelnde Schritte ertönten. Nicht lange, und Annelie trat ins fahle Licht, vor Kälte bebend wie sie. »Und?«, fragte Elisa begierig.
Sie grinste. »In riesigen Schlucken hat er die Suppe verschlungen, genau wie ich’s mir dachte. Ein paar Stunden, und er wird das Gefühl haben, die Därme werden ihm zerreißen. Er wird so damit beschäftigt sein, sich zu entleeren, dass er gar nicht bemerkt, was wir vorhaben.«
Schnell huschten sie wieder in die Baracke, wo sich alle versammelt hatten. Fritz wirkte grimmig entschlossen, Poldi ungeduldig, Annelie kicherte unruhig. Christine äußerte wieder Zweifel an ihrem Plan, woraufhin Jule sie mit der üblichen spöttischen Stimme anherrschte und Christine ihre Nase rümpfte. Katherl rieb sich immer noch müde die Augen, aber lächelte, die anderen beiden Steiner-Mädchen hatten sich aneinandergekuschelt und schliefen. Auch Andreas und Theresa Glöckner, die alle Resa riefen, waren eingenickt, während ihr Vater Taddäus mit gleichmütigem Gesicht neben ihnen saß und Barbara über das Haar der schlafenden Kinder strich.
»Wir haben immer noch nicht geklärt, wie viele Kühe und Schafe wir mitnehmen sollen und wie viele Pferde«, sagte Jule.
Eben noch hatte sie hochmütig über sie hinweggesehen, nun fauchte Christine sie wütend an: »Ich werde gewiss zu keiner Diebin.«
Elisa seufzte. Seit Tagen schon währte dieser Streit, ohne dass es zu einer Entscheidung gekommen war.
»Wir stehlen nicht«, meinte Jule. »Wir haben für ihn gearbeitet, also steht uns auch ein gerechter Lohn zu.«
»Was Konrad Weber mir nicht freiwillig gibt, will ich gar nicht haben!«
»Deinen gelähmten Mann hat er dir auch nicht freiwillig eingebrockt und du hast ihn trotzdem.«
»Bitte!« Zu Elisas Erstaunen mischte sich weder Annelie ein, der ansonsten die Rolle der Schlichterin zukam, noch Fritz Steiner, der nach und nach zu ihrem Wortführer geworden war, sondern Barbara. Sie hatte sich vorsichtig von ihren Kindern gelöst und war aufgestanden. »Bitte, wir sollten nicht streiten! Und wir sollten kein großes Vieh mitnehmen! Wir kennen den Weg nicht, der Wald wird an vielen Stellen ein undurchdringliches Dickicht sein. Störrische Tiere durchzutreiben, für die wir obendrein zu wenig Futter haben, wäre viel zu anstrengend. Wir haben immerhin die Hühner, das sollte reichen. Und außerdem haben wir Konrad fast sein ganzes Werkzeug gestohlen.«
Jule grummelte abermals missmutig, dass von Diebstahl wohl keine Rede sein konnte, vielmehr von gerechtem Lohn, aber sie konnte sich den Worten nicht widersetzen – zu vernünftig klangen sie in ihrer aller Ohren.
Sie hatten noch bei Tageslicht begonnen, unbemerkt die Hühner aus Konrads Verschlägen zu holen und sie in kleine Körbe zu sperren, die sie dann schultern würden. Anfangs hatten sie aufgeregt
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